Ernst Halter - Mermaid
"Einsam tret ich auf den Weg, den leeren, / Der durch Nebel leise schimmernd bricht, / Seh die Leere still mit Gott verkehren / Und wie jeder Stern mit Sternen spricht."
Dieses Gedicht von M. Lermontow, übersetzt von R.M. Rilke, geistert durch Elias´ Gedanken, als er sich auf einer nächtlichen Fahrt durch Norditalien befindet. Starker Regen prasselt nieder, er ist in einem extremen emotionalen Zustand, plötzlich sieht er einen Hund auf der Fahrbahn - "groß wie ein Büffel, sein roter Rachen, Vollbremsung". Elias kommt von der Straße ab, "der Wagen kippte ins Leere, er hörte sich schreien, der Schmerz kappte seinen Atem, er stürzte in den Schacht."
Dieser Unfall ist der letzte Akt einer Liebesgeschichte.
Die Stimme, die das Gedicht geflüstert hatte, war die Stellas gewesen, fünf Jahre lang Elias Geliebte.
Elias Herzen ist Lektor, Autor und Herausgeber kunst-geschichtlicher Bücher. Er ist viel unterwegs, es war nie ein Problem gewesen, sich mit Stella zu treffen.
Seine Frau Ellen schöpfte keinen Verdacht, denn ob Elias zwei, drei oder vier Tage weg blieb, wo überhaupt er sich aufhielt, wusste sie nie genau.
Stella de Marinis wuchs als Tochter italienischer Immigranten in Zürich auf. Sie ist Kunsthistorikerin, arbeitete an diversen Museen, ist Jurorin, schätzt Nachlässe, lebt und arbeitet jetzt in Mailand an der Brera und entwickelt sich zur weltweit gefragten Kuratorin.
Bei einem geschäftlichen Abendessen in Frankfurt lernen sie sich kennen und versinken auf der Stelle ineinander.
Naufragio ist eines der Wörter, die sich durch den Roman ziehen, die ein ganzes Spektrum an Assoziationen und Bedeutungen evozieren. Schiffbruch oder Scheitern ist die Übersetzung, Italienisch die Sprache, in der Stella spricht, wenn sie von der Liebe, über die Liebe oder ausschließlich mit ihrem Geliebten spricht.
"Ihre bedrohten Tage, jeder konnte das Ende bringen, jemand, der ihn, Elis, kennt und es weiterschwatzt.
Es kümmerte sie nicht mal. Sie lebten auf der Insel von Robinson Crusoe die reale Absurdität. Liebe als Riss zwischen ihnen und dem Rest der Welt. Sie beide hier durften nicht sein - und waren es, wann immer sie gleichzeitig in Italien oder Deutschland zu tun hatten, doch. Dass außer ihnen niemand wissen durfte, gab ihrem Glück einen Glanz von Frivolität, Kühnheit und Trauer. Sie waren unrettbar; ach ja, sie liebten einander wie zwei auf einem untergehenden Schiff: restlos, willenlos, das Dunkel suchend, gebend und empfangend. Naufragio - ihr Wort,
sie nahmen den Schiffbruch Nacht für Nacht vorweg."
Elias, Elis, Helian, Helianlieb, Elisio, Animamore sind die Namen, die Stella ihrem Geliebten gibt.
"Herzlieb Miramara Maris Stella Cida Nachtkind Estelle Mondfrau Mermaid", außerdem Stella blu und Regina Macondo nennt er sie.
Verschiedene Namen für unterschiedliche Zustände, Situationen des Erlebens und Empfindens.
Dieser Roman, diese Geschichte einer Liebe, erzählt das,
was die Liebenden erleben. Und - das hebt ihn über die gewohnte Liebesgeschichte hinaus - er sucht eine Sprache der Liebe. Eine, die nicht mit Alltagsvokabeln hantiert, sondern eine, die von den Liebenden im Zusammensein neu geschaffen das sacra-segreta, das heilige Geheimnis, wahrt, auch wenn die Worte der Liebe ausgesprochen werden.
Die Liebe von Stella und Elias bewegt sich außerhalb von sozialen Bindungen, sie ist absolut, sie gleicht einer Religion. Sie feiert sich selbst, ist verletzlich, ist auch ein Ringen mit der Angst. Nicht vor dem Entdecktwerden, aber vor dem Vergehen. Sie ist wie ein Komet, vom Himmel kommend, beim Durchflug durch die Erdatmosphäre verglühend.
Der Roman ist aus verschiedenen Perspektiven konstruiert.
Der Erzähler blickt auf die drei Personen Elias, Stella und Ella und entwickelt das Geschehen.
Er beginnt sogleich mit dem "Postscriptum": dem Unfall, der Zeit nach der Trennung von Mermaid, dem Tod Ellens.
Elias findet einen Brief Stellas in einem Buch.
Die Frage "Was haben wir getan?" löst die Erinnerungen aus. Aus der Rückschau auf die verlorene Liebe schauend, entwickelt sich eine Anrufung der Geliebten, der Liebe selbst.
Stella kommt direkt zu Wort. Briefe, niedergeschriebene Gedanken (vielleicht in ein Tagebuch, jenes Buch, das an sich selbst gerichtet ist), Erinnerungen an ihre Kindheit in den Abruzzen und die Ankunft in der Schweiz, ihr Studium und ihre Arbeit. Sie ist nicht nur die Geliebte Elias, sie ist eine weltgewandte Frau, zu Hause in den großen Städten, an den wichtigen Museen. Sie geht um mit Bildern und Symbolen, ist vertraut mit den Gedanken vergangener Zeiten.
Sie kennt die Metaphern der Auflösung und Zerstörung.
In einem Akt der Extase zeichnet sie Elias für sein Leben.
Er trägt nun ein Kreuz auf der Brust, so wie sie eine Narbe
an ihrer Brust hat, Mal eines Liebesaktes, der alle Grenzen hinter sich ließ. Diese Zeugnisse veranschaulichen die Religiosität der Liebe und sie verweisen auf Stellas große Ausstellung "Christus und der Tod", die sie nach der Trennung konzipierte. Sie war ihr Weg zurück ins Leben.
Sie ging ihn alleine.
"Er hat einen Teil seines Schmerzes an den kaputten Körper, an eine Einsamkeit von Monaten und an Ellens Todes-krankheit weitergeben können. Mermaid hat weiter leben müssen, bereits am nächsten Tag."
Ernst Halters Roman ist auch ein Nachdenken über die Dualität. Zwei Menschen, Mann und Frau, die Dualität an sich, begegnen einander, versinken für Momente ineinander. Die Sprache des Alltags und die Sprache der Liebe begegnen sich, Himmel und Hölle sind manchmal kaum voneinander zu trennen. Vernunft und Glaube, Verstand und Gefühl -
wer mag sie zweifelsfrei trennen.
Die Welt - Herkunft, Familie, Beruf, Elias Ehe, die Städte,
in die die beiden reisen - bildet den Hintergrund.
Nicht undeutlich gezeichnet, aber gerade so weit ausge-arbeitet, dass sie als Folie für die wenigen Jahre dient,
die Stella-Mermaid und Elis-Animamore (Seelenlieb) miteinander verbringen.
Die große Bühne gehört den Liebenden und der Sprache der Liebe.
Der Roman ist keine leichte Kost. Am besten, man liest ihn gleich zweimal hintereinander, anders sind die vielen inneren Verbindungen kaum zu erfassen.
Das an den Anfang gestellte Ende, das zuerst gelesene und am Ende von einer Geisterstimme geflüsterte Gedicht, ist ein offensichtlicher Hinweis darauf, dass die Geschichte nicht zu Ende ist - zumindest in Elias lebt sie weiter.
Im letzten Abschnitt des Romans wird der berühmte Isenheimer Altar Matthias Grünewalds als "eines der frühesten malerischen Zeugnisse des Lichtes der Vernunft" bezeichnet. Er ist "genau das nicht, was er zu sein scheint: absurdester Aberglaube".
Verhält es sich so auch mit der Liebe?
"Schicksal? Alle glauben daran, doch die Liebe steht über ihm, Mermaid. Sie ist die höchste Vernunft! Wie das wieder klingt! Und ist ein Widerspruch mehr; unser ganzes Leben ist ein Widerspruch. Nicht die Liebe war am Ende, wir waren es. Stella blu, jene Nacht hat fünf Jahre zu lange gedauert. Zeit, dass es tagt. Kannst Du mir verzeihen? ... Sei umarmt. Dein Helian."
Ernst Halter: Mermaid
Klöpfer & Meyer, 2918, 346 Seiten