Dincer Gücyeter - Mein Prinz, ich bin das Ghetto

Es gibt Gedichte, die sind mit schwarzer Tinte und spitzer Feder geschrieben. Und es gibt solche,

für die der Dichter die ganze Farb-palette und viele verschiedene Pinsel benutzt hat.

Dincer Gücyeters Lyrik gehört unzweifelhaft zur farbigsten, sinnlichsten und ausschweifend-sten Poesie unserer Zeit.

 

Er beginnt mit einem Aufbruch "im Jahr 1983, Deutschland", so auch der Titel des ersten Gedichts. Ein Kind und seine Mutter machen sich auf die Reise, mit Stift und Papier, ohne Ziel, es geht einfach los.

 

"im Schmunzeln meiner Mutter bäumt sich immer

ein entlaufenes Fohlen auf" - das Fohlen ist eines von sehr vielen Tieren, die durch diesen Gedichtband traben, fliegen, kriechen oder schwimmen. Sie stehen in Bezug zu den Menschen oder agieren für sich, bringen Leichtigkeit und Tiefe in die Texte, lösen Assoziationsketten aus.

 

Dincer Gücyeter schreibt über die großen Ereignisse im Leben: Geburt, Zuckerfest, Beschneidung, Hochzeiten.

Über die Nächte zu zweit, Groß- und Kleinfamilie, Heimat und Ferne, Sehnsucht und Nähe.

 

Er führt einen Dialog mit einer inneren Stimme oder einer Stimme aus dem Hintergrund. Häufig klingt es wie eine Anrufung, ein Beschwören ferner Mächte, die er jedoch zugleich mitten ins Leben holt.

 

"ich bin Ödipus, Papa, Ödipus

dein Fohlen

öffne die Tür

erlaube mir, über diese Schwelle zu springen

unter meinen Füßen der Staub und die Dornen einer langen Strecke

ich bin der Erdenbrand, der Brautstrauß

erlaube mir über diese Schwelle zu springen

die Füße ins kalte Wasser zu stellen

wie viele Räume hat deine Stimme, Papa

wie viele Räume

..."

 

In diese mystischen Räume bricht die Wirklichkeit.

So wird zum Beispiel ein Walnussbaum seiner Blätter beraubt, in der Absicht, ihn von Ungeziefer zu befreien.

Er geht ein.

Oder Jungs, die vor dem Zuckerfest zum Frisör geschickt werden und als Mini-Mönche zurückkehren. Dabei wollte der Erzähler in diesem Gedicht so aussehen wie Jackie Chan.

 

Das lyrische Ich verschmilzt mit dem Ich des Autors, das seine Flügel zwischen Anatolien und dem Rheinland auf-spannt. Der sagt, "Ich bin ein deutscher Dichter (Bastard) mit Migrationshintergrund...", der aus den Gegensätzen eine Quelle der Phantasie macht.

 

Dincer Gücyeter blickt tief  in die Spalten und Risse der menschlichen Existenz, er findet starke Wortbilder und nutzt die Möglichkeiten der Sprache, indem er ungewöhnliche Pfade geht.

 

Eine meiner liebsten Zeilen:

"und da, hinter dem Fenster sitzt ein Mann am Schreibtisch, zerstümmelt die Worte mit Erinnerungen..."

 

Was ist zerstümmeln? Wie klingen Worte, die mit Erinner-ungen zerstümmelt wurden?

 

Die Gedichte klingen jedenfalls fabelhaft.

Einige sind in sich geteilt, abgesetzt durch verschiedene Schriftarten, sie lassen sich auf verschiedene Weisen lesen. 

 

Dezidiert in zwei Welten bewegt sich der Zyklus "Mein Prinz, ich bin das Ghetto", in dem sich ein lyrisches Ich an den Prinz wendet. Es spricht von Liebe, Lust und Tod, von Ewigkeit.

Auf dem unteren Teil der jeweiligen Seite zieht sich eine Klage an "Deutschland, du verkrochener Vater..." Hier wird Gücyeter politisch, sozialkritisch, fordernd. Er sagt:

"Deutschland, komm raus aus deiner Kaserne, es gibt keine unschlagbare Mauer auf dieser Welt. schminke dir diese synthetische Vaterrolle ab, zeige deine Schwächen, deine Wunden, lass uns einfach an dich glauben. ..." 

Unterschrieben: "ein Gastarbeiterkind".

 

Dincer Gücyeter, geboren 1979 im rheinländischen Nettetal, hat mit diesem Gedichtband fortgesetzt, was er in seinem ersten Buch, "Aus Glut geschnitzt", begonnen hatte: Wurzeln und Aufbruch, sprich, Erde und Himmel, miteinander zu verbinden. Dass er mehr als eine Muttersprache hat, liest man in jedem Gedicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dincer Gücyeter: Mein Prinz, ich bin das Ghetto

Elif Verlag, 2021, 98 Seiten