Dana Grigorcea -
Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen
Eine frühlings- und sommerleichte Liebesgeschichte, eine Hommage an die Stadt Zürich, eine Liebeserklärung an die Kunst und eine Absage an die hohle Kunstbeflissenheit vieler Menschen, die nicht wissen, wovon sie schwatzen.
Und eine gekonnte Wieder-Aufnahme der berühmten Geschichte um Anna Sergejewna und Dimitri Gurow, die im Jahr 1899 entstand.
Bei Tschechow ist es Gurow, der die wesentlich jüngere Anna verführt. Hier ist es die Ballerina Anna, verheiratet mit einen angesehenen Arzt, der seine Praxis mit Fotos seiner berühmten Frau geradezu tapeziert hat, erfahren im Umgang mit Liebhabern, die sich auf ein Gespräch mit Gürkan einlässt, aus dem sich alles weitere entwickelt.
An einem warmen Frühlingsnachmittag sitzt Anna mit ihrem Hündchen im Café, der Mann am Nebentisch lockt den Hund mit einem Keks an - so lernen die beiden sich kennen.
Anna ist nicht mehr jung genug, um selbstverständlich die Hauptrolle zu tanzen, hat jedoch eine Ausdrucksfähigkeit erreicht, die sie in Charakterrollen glänzen lässt. Seit kurzem arbeitet sie auch an Choreographien - innerlich bereitet sie sich auf das Ende ihrer Karriere als Primaballerina vor.
Gürkan ist Gärtner. Er schmückt die Blumenbeete am See, ist Kurde, verheiratet mit seiner Cousine, hat drei kleine Kinder und lebt in der kleinen Stadt L., eine knappe Stunde von Zürich entfernt.
Das erzählt er ihr während des ersten Spazierganges nach der ersten Begegnung im Café. Diese Spaziergänge werden eine schöne Gewohnheit. Beide genießen die Sonne, die erwachende Natur, die Ausblicke auf den See und die Berge - und die Gegenwart des Anderen.
Gürkan ist es, der bald Gewissensbisse bekommt:
"Glaub mir, Anna, in Gottes Namen! Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ich will ein Leben, das ehrlich ist und ohne Sünde. Ich weiß nicht, was ich tue. Glaub mir bitte."
Anna hingegen geht sehr frei mit ihrer neuen Liebe um.
Später wird sie Gürkan einem Bekannten ihres Mannes als "Mein Liebhaber" vorstellen, so offen und unverblümt, dass dieser es wohl gar nicht glaubt.
Als alle Beete fertig sind, hat Gürkan nichts mehr zu tun in Zürich, er wird in anderen Städten arbeiten.
Scheinbar ohne große Schmerzen trennen sie sich, es war immer klar, dass es sich um eine vorübergehende Affäre handelt.
"Es ist gut, dass du gehst", so Anna. "Ja, das ist unser Schicksal."
Wirklich? Nachdem er weg ist, denkt Anna an nichts anderes mehr. Sie ist unglücklich-glücklich. Sie ist beflügelt, traut sich wieder eine Hauptrolle zu, die Welt scheint sich ihr zuzuneigen, jede Blume, jeder Vogel, alle geben ihr Zeichen.
Sie fährt alleine nach Venedig, doch was tun, alleine in dieser Stadt? Sie reist ab, feiert zu Hause Feste mit ihren Freunden und denen ihres Mannes. Das alles berührt sie nicht mehr.
"Sie erinnerte sich an die Gespräche mit Gürkan und entdeckte jetzt in deren Schlichtheit eine Wahrhaftigkeit,
die alle Dinge im Leben an ihren angedachten Platz bringt,
in eine Ruhe, die Annas Leben abhandengekommen war.
Sie mochte es, sich an alles zu erinnern: wo sie zusammen gewesen waren ... Der Gedanke an Gürkan wurde immer mehr zu einem Echo ihres innigen Selbstgesprächs, und so füllte er die Lücken zwischen ihren Bewegungen, die jetzt geschmeidiger wurden, in der logischen Abfolge ihrer stillen Dialoge und Versprechungen,..."
Mittlerweile ist es Herbst. Anna fährt nach L., trifft Gürkan wieder, inmitten von Familie und Nachbarn.
Er ist so glücklich wie sie, sie treffen sich wieder in Zürich, nehmen die Spaziergänge und Liebesbegegnungen wieder auf.
"Wie schön doch das Leben war!"
Und doch, die ganze Zeit über, ist der Himmel weder rein azurblau noch voller Glocken. In dieser Melodie von Leichtigkeit und Verliebtheit schwingt von Anfang an ein Moll-Ton mit. Kaum festzumachen an einzelnen Stellen, aber hörbar.
Ist es Gürkan, der durch Anna Zugang zu einer ihm fremden Welt, der Kunst, bekommt, und der ohne es zu wissen einen perfekten Pas-de-deux mit ihr tanzt, der von einem Leben mit Anna träumt, ist sie diejenige, die sich zwar entwickelt und verändert und der in vielen Punkten die Augen aufgehen, so ist es sie, die Lebens- und Liebeserfahrenere, die weiß, dass der Zauber dieser Liebe in ihrer Flüchtigkeit liegt.
"Hatte nicht jede Geschichte ein Ende? Und war das Ende ihrer Geschichte nicht dieses? Annas Atem stockte.
Lag ihr Glück nicht einzig in der flüchtigen Ahnung davon?"
"Etwas Feierliches lag in der Luft, in den beschwingten Schritten der Menschen auf der Bahnhofstraße, im Surren und leisen Rasseln der Fahrräder, die an ihnen vorbeifuhren. Überhaupt dieses Surren der Räder im Leerlauf, ein lang anhaltendes Geräusch, das man für das Summen von Insekten halten konnte - ein Summen, das ein letztes Mal erklang, bevor auch der Herbst zu Ende ging."
"Auch" der Herbst geht zu Ende, dieses Wort ist der einzige Hinweis auf das, was aus Annas und Gürkans Liebe wird.
Anna ist Teil der gesellschaftlichen Elite Zürichs, sie ist Teil des Theaters und der Kunstszene. Diese Welten sind nicht immer tiefgründig. Spiel, Verstellung und Theatralik ereignen sich nicht nur auf der Bühne.
Doch auch wenn Anna in der Begegnung mit Gürkan eine Wahrhaftigkeit findet, die es für sie sonst nirgendwo gibt - sie braucht diese Kunst-Welt, wäre ohne sie nicht mehr die Anna, die Gürkan fasziniert.
In der Leichtigkeit dieser Novelle liegt eine große Kunst-fertigkeit. Wie schon in ihrem Roman "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit" schafft Grigorcea eine Atmosphäre, die von einer Schwerelosigkeit der Wahrnehmung lebt und den Leser bezaubert. Wer, wenn nicht eine Ballerina, verkörpert die Kunst der Schwerelosigkeit? Und wer, wenn nicht ein Gärtner, könnte ihr Bodenhaftung verleihen, bringt er doch
"alle Dinge im Leben an ihren angedachten Platz"?
Aber wo ist der "angedachte Platz" einer Ballerina?
Zwischen Himmel und Erde spannt Grigorcea ihre Novelle, lässt sie Anna ihre Netze weben.
Und beschert dem Leser eine Geschichte, die im wahrsten Sinne aus Liebe und Leidenschaft besteht.
Dana Grigorcea:
Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen, Novelle
Dörlemann Verlag, 2018, 128 Seiten