Nikolaj Gogol & Edgar Sánchez (Illustrationen) -
Tagebuch eines Wahnsinnigen
Die berühmte Erzählung Nikolaj Gogols aus dem Jahr 1835 ist einer neuen Ausgabe erschienen. Es ist die Geschichte des Titularrats Poprischtschin, der unter seinem Beruf, unter seinem Chef und unter seiner Bedeutungslosigkeit leidet. Hoffnungslos verliebt in die Tochter seines Vorgesetzten, flieht er in eine teuflische Scheinwelt, aus der er keinen Ausgang mehr findet.
Die Erzählung beginnt am 3. Oktober. Der Ich-Erzähler ist spät aufgewacht, geht missmutig ins Büro. Auf dem Weg dorthin begegnet er seiner Angebeteten mit ihrem Hündchen Maggie. Er hört, wie Maggie mit einem anderen Hund spricht! Und er hört, Maggie habe diesem sogar geschrieben!
"Das setzte mich in Erstaunen. Ich gestehe, seit einiger Zeit höre und sehe ich zuweilen Dinge, die noch kein Mensch gesehen und gehört haben mag."
Er beschafft sich diese Briefe, am 13. November, so ist es im Tagebuch vermerkt, hält er sie in der Hand und liest sie.
Dabei erfährt er, dass sein geliebtes Wesen bereits einen passenden Verehrer hat, er selbst also kaum noch zum Zug kommen wird.
Seine Verzweiflung nimmt zu. Ebenso seine Wahnvor-stellungen. Das Datum, mit dem jede Tagebuchnotiz beginnt, folgt zunehmend einer Phantasie.
"Im Jahre 2000, D. 43. April" liegt noch relativ nah an der Realität, es folgen "Gar kein Datum, der Tag hatte kein Datum", "Januar desselben Jahres, der auf den Februarius folgt", bis zum letzten Eintrag: "Da 34TUM MON. IHRA FEBRUAR 349".
In dieser Zeitspanne entwickelt Popritschschin die Idee, König von Spanien zu sein:
"Der heutige Tag ist ein Tag des größten Triumphs! Spanien hat einen König. Er ist plötzlich da. Dieser König bin ich. Gerade heute habe ich es erfahren. Ich muss gestehen, es erleuchtete mich wie ein Blitz. Ich verstehe nicht, wie ich mir nur denken und einbilden konnte, dass ich ein Titularrat sei. Wie konnte mir nur dieser verrückte, wahnsinnige Gedanke in den Kopf kommen? Es ist noch ein Glück, dass es niemand eingefallen ist, mich ins Irrenhaus zu sperren."
Diese Verkehrung der Tatsachen wird ihn genau dorthin bringen. Mit Stöcken und kaltem Wasser traktiert, meint er, der Inquisition zum Opfer gefallen zu sein.
Es sehnt sich hinweg aus seinem Kerker, sehr poetisch schwingt er sich im Geiste auf in den Himmel zu den Sternen, zu seiner Mutter.
"Mütterchen, rette deinen armen Sohn! Lasse eine Träne auf seinen kranken Kopf fallen! Schau, wie sie ihn quälen!..."
Wie eingangs erwähnt, liegen die Tagebuchaufzeichnungen nun in einer neuen Ausgabe vor. Diese ist Teil einer in diesem Jahr begonnenen Reihe des Faber & Faber Verlags, "Bagatellen". Sie wird ausschließlich von Studenten der Buchillustration in Leipzig und Hamburg gestaltet. "Es soll erprobt werden, wie neue bildnerische Handschriften an kanonischen Texten der Weltliteratur entstehen", so der Verlag.
Dem Illustrator Edgar Sánchez (geb. 1992) ist mit seiner Gestaltung ein großer Wurf gelungen. Die Texte sind durchgängig in rot gedruckt, die Illustrationen in schwarz-weiß gehalten.
Auf den ersten Blick scheint er sich an Henri Matisse orientiert zu haben. Dessen Künstlerbuch "Jazz" aus dem Jahr 1947 setzte Maßstäbe. Er arrangierte Scherenschnitte, mit einen speziellen Verfahren wurden daraus die Bilder gedruckt.
Sánchez Bilder wirken ebenfalls wie Scherenschnitte.
Sie abstrahieren die Gedanken der Tagebücher, fassen sie zugleich in ihrer Kernbotschaft zusammen.
Die teilweile verzerrte Perspektive reflektiert die Wahrneh-mungsverschiebung des Erzählers, ein Teufelchen, manchmal in der Gestalt eines Hundes, begleitet ihn durch das ganze Buch. Das schöne Fräulein ist ebenso präsent wie die keulenschwingenden Handlanger des "Großinquisitors".
Das Ende der Eintragungen zeigt eine symbolische Pieta, hoch oben bei den Sternen schwebend. Das letzte Bild, ein doppelseitiges Spiel mit der Umkehrung von schwarz und weiß, taucht noch einmal in die Tiefe ab.
In ihrer direkten Bezugnahme auf den Text, sowie in ihrer Monochromie und ihrem Arrangement, heben sich Sánchez Illustrationen von denen des Malers Matisse ab.
Er hat dem Helden Gogols, seiner Verzweiflung, seinem Weg in den Wahnsinn, Gestalt gegeben. Jede einzelne Illustration ist ein Gemälde für sich, in ihrer Gesamtheit wirken sie sehr stark. Man darf auf weitere Gestaltungen Edgar Sánchez gespannt sein!
Nikolaj Gogol: Tagebuch eines Wahnsinnigen
Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Eliasberg
Illustriert von Edgar Sánchez
Faber & Faber Verlag in der Reihe "Bagatellen", 2021,
64 Seiten, Englische Broschur
(Originalausgabe des Textes 1835)