Anke Gebert - Wo du nicht bist
Dieser Roman erzählt die auf einer wahren Begebenheit beruhende Liebesgeschichte von Irma und Erich.
Die beiden wollten am 16. September 1935 heiraten - am Tag zuvor wurde mit sofortiger Wirkung das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes" erlassen. Dieses Gesetz verbot die Hochzeit der Christin mit dem Juden.
Irma kommt aus sehr einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war im Krieg gefallen, die Mutter kam bei einem Unfall (Suizid?) mit einer Straßenbahn ums Leben. Die beiden Töchter Irma, damals zehn, und ihre jüngere Schwester Martha wurden von der Nachbarin als Pflegekinder aufgenommen. Diese versäumte nie darauf hinzuweisen, dass sie sie vor dem Waisenhaus gerettet habe - Grund genug für sie, die beiden Mädchen als Haushaltshilfen und Geldquelle zu benutzen.
Irma ist ein sehr geschicktes Mädchen, sie bessert die Kasse mit Näharbeiten auf. Dies wird sie viele Jahre lang machen, auch nachdem Irma und Martha erwachsen und selbständig sind. Das Zubrot zu ihrem Beruf als Stoffverkäuferin im KaDeWe brauchen sie dringend, denn Martha wird nach einem Übergriff des Herrn, bei dem sie in Stellung ist, schwanger und selbstverständlich entlassen. Und Irma fühlt sich immer für ihre Schwester verantwortlich, auch wenn diese es ihr nicht dankt.
Der Gynäkologe, der sich rührend um Martha kümmert, ist der Mann, in den sich Irma unsterblich verliebt.
Er lebt in einer anderen Welt: in einer schön eingerichteten Wohnung, er spielt Klavier, gibt große Abendessen.
Irma fühlt sich anfangs sehr verloren, doch sie fasst Fuß in dieser Welt. Dabei hilft ihr Erich auf jede erdenkliche Weise. Die beiden verleben eine kurze Zeit des Glücks, vor allem während der Verlobungszeit und einer Art vorgezogener Flitterwochen in Venedig.
Doch bald wendet sich das Blatt für Erich Bragenheim grundlegend. Sein Leben wird immer eingeschränkter,
seine Arbeit in der Praxis verboten.
Anke Gebert beschreibt die politische Situation, die Reaktionen der Gesellschaft anhand der Bekannten Erichs und Irmas, deren Einschwenken auf die Parteilinie, ihren Rückzug von Erich, den aufkommenden und anschwellenden Hass - und dazwischen die dünner werdende Hoffnung, alles würde wieder gut, anhand der Geschichte des Paares.
Irma hat mit ihrem Herzen ein Eheversprechen gegeben, das sie bis an ihr Lebensende bindet. Auch wenn sie 1945 zufällig einen gemeinsamen Bekannten trifft, der ihr erzählt, Erich sei in Auschwitz ums Leben gekommen, ist und bleibt sie seine Frau.
Von nun an setzt sie alles daran, auch rechtlich als Frau Bragenheim anerkannt zu werden. Es geht ihr nicht um ein eventuelles Erbe oder eine Rente - sie möchte schlicht eine Tatsache offiziell bestätigt haben.
Es beginnt ein siebenjähriger Marathon durch diverse Anwaltskanzleien und Amtsstuben. Mit diesem Kampf
Irmas blättert Anke Gebert ein weiteres Kapitel deutscher Geschichte auf.
Denn, wie man weiß, verschwand das Gedankengut der Nazizeit nicht über Nacht.
So erzählt die Autorin über die Liebesgeschichte hinaus ein Stück Geschichte, gut fassbar, da sie an zwei Menschen aufgezeichnet wird, die sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Im Gegenteil, beide übernahmen Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch für andere.
Der Mut, den Irma bewies, indem sie sich nicht von Erich abwandte, ist beispielhaft!
Geschickt verwebt sie die verschiedenen Zeitebenen ineinander. Dabei nimmt die im Auftakt des Romans beschriebene Hochzeitszeremonie Irmas, die sich den Ring selbst ansteckt, keineswegs die Spannung.
"Sie erhebt sich ebenfalls, nimmt den kleineren Ring und steckt ihn sich an den Ringfinger ihrer rechten Hand. Dann nimmt sie den zweiten Ring. Blickt zu dem Stuhl neben sich. Zu ihrem Bräutigam, den sie jetzt küssen darf.
Der Stuhl ist leer."
Anke Gebert: Wo du nicht bist
Pendragon Verlag, 2020, 280 Seiten