Fragmente: Die Zeit danach
Herausgegeben von Marlen Schachinger
Ein Buch, das sich in zwanzig weiblichen Stimmen mit der Zeit nach der Corona-Krise beschäftigt.
Darüber nachdenkt, was bleiben, was sich verändern wird. Darüber, wie sich Fragmente einer Krise in einer Persönlichkeit festsetzen. Das Dank einer Crowdfunding-Kampagne überhaupt existiert. Und zu dem es den Dokumentarfilm "Arbeit statt Almosen" gibt. In diesem sprechen die Autorinnen während des Auftrittsverbots zur Zeit des Lockdown im Frühjahr 2020 über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von SchriftstellerInnen in der `Kulturnation´ Österreich. In anderen Ländern sieht die Situation nicht besser aus, nebenbei bemerkt.
Entstanden ist ein vielfältiges, qualitativ hochwertiges Buch, das, angelehnt an Brahms Klaviersonate Nr. 3 in f-Moll, fünf Sätze hat. In vier bis sechs Texten pro Satz, von Gedicht über Essay, von Erzählung über Dramolett, vereint die Anthologie die verschiedensten Stimmen, die sich auf eines geeinigt haben: das mit "C" beginnende Wort soll nicht vorkommen.
Die momentane Krise ist Anlass, darüber zu reflektieren,
wie sich Krisen auf Menschen auswirken.
In der ersten Erzählung schreibt Renate Welsh `con grandezza´ über die "Tante Lise", die aus unerfindlichen Gründen immer zur Stelle war, wenn jemand aus der Familie in Schwierigkeiten steckte. Die die Familie zusammenrief , mit ihrer großen braunen Tasche anreiste und eine Lösung fand. Und genau diese Tasche der Ich-Erzählerin vererbt - und damit eine Aufgabe, von der sie nicht weiß, ob sie ihr gewachsen ist.
Über Frauenfreundschaft und die Suche des eigenen Weges schreibt auch Sara M. Schachinger in der Geschichte "Keine Widerstandkämpferin mehr" (die Anweisung lautet "renitente"), die mit den Worten "Geh und finde deine eigenen Abenteuer. Du kannst das. Auch ohne mich" endet.
Es folgt die schön konstruierte, mehrfach in sich gebrochene Erzählung "A Woman´s Place Is on Top, Too" ("andante"),
die sich um die Bergsteigerin Claude Kogan (1919-1959) dreht. In das Kleid eines Marionettentheaters gewandet, erzählt Marlen Schachinger von Sexismus, den Medien, den Kämpfen unangepasster Frauen. Verknüpft mit der Geschichte einer Frau von heute, die sich mit der "Häme" an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz auseinandersetzten muss.
Eine weitere Erzählung beleuchtet das Leben einer Näherin in China, diverse Texte reflektieren das Thema "fühlen", schön auch der Text "Die Metamorphose der Ernestine M.", der die Schließung der Grenzen zur Freiheit verhilft.
Ein altes Ehepaar fühlt sich an die Situation in der DDR vor dreißig Jahren erinnert - und doch ist es ganz anders.
Der letzte Text des Buches ist ein Gedicht, das den Titel "Morgen" trägt:
"Morgen werden wir
atmen und tauchen
in allen Formen
gierig nach Luft
Rosen und Rauten
Rhabarber und Kraut
Beet und Rüben
wir werden uns
in den gelben Lungen
der Felder sehen
....
Ein Gedicht voller Blumen, voller Hoffnung, trotzdem realistisch -
wir werden frei sein
wir werden wüten und loben
.....
wir werden nicht mehr so nah
an den Klippen stehen
die Kuckuckslichtnelke wird uns rufen"
(Angelika Stallhofer)
Meine Auswahl ist willkürlich, sie soll keine `Aufzählung der Besten´ sein, sie dient dazu, die Vielfalt zu betonen.
Alle Texte sind mit einem Kurzporträt der Autorin versehen, abgedruckt ist auch eine nicht gehaltene Rede anlässlich einer Ausstellungseröffnung, diese wurde abgesagt.
Abgerundet wird die Anthologie von einem Quellenverzeich-nis, das zu lesen sich ebenfalls lohnt, finden sich darin doch so schöne Sätze wie: "Diese Fragmente sind Metamorphosen. Sie spiegeln eigen- und fremderlebte Durchläufe von Krisen. Von einem Mittendrin-Sein zu einem verabschiedig-bleibenden Danach. Wie ein Mensch durch solche Phasen kommt? Schreibend oder Artikel lesend oder Wortfoto-grafien sehend. ..." (Siljarosa Schletterer).
Auf jeden Fall lesend!
Fragmente: Die Zeit danach
Herausgegeben von Marlen Schachinger
Eine Anthologie der Edition Arthof
Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, 2020, 248 Seiten