Elena Ferrante - Die Geschichte eines neuen Namens

Der erste Band der Saga um die Freundschaft von Lila und Elena,

Meine geniale Freundin, endet mit der Hochzeit der sechzehnjährigen Lila.

Und er endet mit einem Eklat: Lilas Ehemann Stefano hat die von Lila entworfenen und von ihrem Bruder Rino gefertigten Schuhe an den verhassten Marcello Solara, den ortsansässigen und tonangebenden Camorrista, verkauft.

 

Dieses Schuhe sind ein Symbol und ihr Verkauf ein Verrat.

Lila ist außer sich und rauscht aus dem Saal. Und fragt sich, ob ihr Mann nun "die Maske herunterreißen und sein entsetzlich wahres Gesicht zeigen" würde. Stefano schafft vollendete Tatsachen, Lila muss sich fügen.

 

Der zweite Band, der die ersten fünf Jahre von Lilas Ehe umfasst, beginnt mit der Übergabe von ein paar von Lila vollgeschriebenen Heften, die sie in einer Blechschachtel verwahrt. Als Elena sie besucht, nach Jahren, in denen die Freundschaft eingeschlafen zu sein schien, vertraut Lila ihr diese Hefte an. Ihr Mann Stefano darf sie auf keinen Fall finden, auch Elena darf sie nicht lesen. Kaum aus dem Haus und im Zug nach Pisa sitzend, öffnet Elena die Schachtel und liest das, was Lila geschrieben hat. Und ist fasziniert.

Lila schreibt in einem Ton, der einzigartig ist, der den Leser sofort fesselt, der ein inneres Feuer hat und viel frische Luft in Elenas Gedanken bringt.

 

 

"Jeder Satz, auch die, die sie noch als Kind geschrieben hatte, schien meinen Sätzen jeden Sinn zu nehmen, nicht den damaligen, sondern den heutigen. Und zugleich regte jede Seite mich zu eigenen Gedanken, eigenen Ideen, eigenen Texten an, als hätte ich bis dahin in einer zwar emsigen, doch ergebnislosen Stumpfheit gelebt. Ich lernte diese Hefte auswendig, und am Ende spürte ich durch sie die Welt der Scuola Normale stärker, die Freundinnen und Freunde, die mich schätzten, den herzlichen Blick derjenigen unter den Professoren, die mich ermutigten, immer noch mehr zu tun, einen allzu behüteten und daher allzu vorhersehbaren Teil der Welt verglichen mit der stürmischen, die Lila unter den Lebensbedingungen des Rione auf zerknitterten, fleckigen Seiten mit ihren hastigen Zeilen zu erkunden vermochte."

 

Elena hat den Sprung aus dem Rione geschafft.

Durch unermesslichen Fleiß, pausenlosem Lernen und dem Verzicht auf jugendliche Vergnügungen hat sie das Abitur als Schulbeste bestanden und ein Stipendium für die Universität in Pisa erhalten. Dort muss sie sich ihren Platz hart erkämpfen. Zu ungehobelt sind ihre Manieren, sie ist die Einzige, die aus sehr sehr einfachen Verhältnissen kommt.

Sie ist klug, aber sie verfügt nicht über den Hintergrund an Bildung, den ihre Mitschüler aufgrund ihrer Herkunft haben.

 

Unter dem Eindruck von Lilas Heften schreibt sie ihre,

Elenas, Geschichte auf. Sie schenkt diese Geschichte ihrem Verlobten Pietro, Sohn aus bestem Haus, ein Philologe.

Seine Mutter sorgt dafür, dass Elenas Text, der als privates Geschenk gedacht war, veröffentlicht wird.

Elena hat nun ein blendendes Examen in der Tasche, hat durch ihre Verlobung Zugang zu den besten akademischen Kreisen, und sie ist eine Romanautorin.

Elena Greco, so steht es auf dem Umschlag.

 

Elena könnte stolz und zufrieden sein, aber sie ist es nicht. Sie fühlt sich fremder denn je, sowohl in Pisa als auch in Neapel. Aus ihrer Heimatstadt ist sie weit hinausgewachsen, mit ihren dreiundzwanzig Jahren hat sie sehr viel erreicht. Doch sie ist noch nicht angekommen in der neuen Welt, der neuen Schicht, auf der Landkarte des Status kennt sie sich nicht aus.

 

Die Zweifel, ob es richtig war, diesen Weg einzuschlagen, bleiben.

Lila hat einen Ehemann, hatte einen Geliebten, hat ein Kind. Sie hat den Ehemann verlassen, was lebensgefährlich sein kann in einer Welt, in der die Frau dem Mann gehört.

Lila hat sich Freiheiten genommen, die großen Mut erforderten, sie hat aber auch teuer dafür bezahlt.

Und auch Lila hört nie auf zu zweifeln. Als sie noch eine schöne Wohnung hat, lädt sie Elena ein, dort in Ruhe zu lernen. Als sie noch Geld hat, kauft sie ihr die Schulbücher. Und sie wir nie nie nie müde, Elena zum Lernen aufzufordern, sie regelrecht anzustacheln. Als ob Elena es an ihrer Stelle für beide tun sollte.

 

Lila hat es nie verwunden, dass sie die Schule verlassen musste, doch Elena fühlt sich auch nach allen Erfolgen nicht ebenbürtig mit Lila. Diese hat etwas, das nicht greifbar ist, nicht benannt werden kann - und dieses Etwas äußert sich deutlich in Lilas Texten. Die Elena schließlich nicht mehr ertragen kann und in den Arno wirft.

 

Die Doppelbiographie der beiden Mädchen, die zwei verschiedene Lebenswege nachzeichnet, ist ein sehr genaues Gesellschaftsporträt, das all dem nachspürt, was ein Frauenleben ausmacht. Im wesentlichen konzentriert auf

das Neapel der 1960er Jahre, in dem Gewalt gegenüber Frauen an der Tagesordnung ist und ganz selbstverständlich dazu gehört, versäumt Ferrante aber auch nicht zu zeigen,

dass die Männer genauso unter diesem grausamen Rollenmodell leiden.

Ein paar junge Männer gibt es, die versuchen auszubrechen. Die ihr eigenes Leben und das ihrer Freundinnen reflektieren und versuchen, es anders zu machen als ihre Väter und Brüder.

 

Stefano gehört nicht zu diesen. Er behandelt Lila äußerst brutal, gibt mit seiner Geliebten an, empfindet die Tatsache, dass Lila einen Freund hat, aber als größte Schande.

 

Mit ihrem Geliebten erlebt Lila die Liebe, die sie in der Ehe nicht findet. Mit aller Leidenschaft des Körpers und des Geistes, denn sie lernt, denkt und diskutiert mit ihm.

Dreiundzwanzig Tage leben sie zusammen, in einer miesen Wohnung, die Lila gemietet hat. Dann verlässt er sie.

Auch er kann dieses Feuer nicht ertragen, ihr eigenständiges Denken ist auch für ihn zu viel.

 

Unversehens taucht noch ein Text auf. Maestra Oliviera,

die Grundschullehrerin der beiden und diejenige, die

Elenas Eltern überredet hat, sie weiterlernen zu lassen, ist gestorben. Sie hat die Hefte von Elena und Lila aufbewahrt, dabei ist auch eine Erzählung Lilas, "Die blaue Fee."

 

"Ich begann Die blaue Fee von Anfang an zu lesen, überflog die blasse Tinte, die Schrift, die der meinen von damals sehr ähnlich war. Aber schon bei der ersten Seite bekam ich Bauchschmerzen, und sofort brach mir der Schweiß aus. Doch erst am Ende gestand ich mir ein, was ich bereits nach wenigen Zeilen begriffen hatte. Lilas kindliche Seiten waren das heimliche Herz meines Buches. Wer wissen wollte, woher seine Wärme kam und woher der starke, doch unsichtbare Faden rührte, der die Sätze verband, müsste auf dieses Heftchen eines kleinen Mädchens zurückgreifen, nur zehn Seiten, eine verrostete Stecknadel, ein mit leuchtenden Farben ausgemaltes Deckblatt, ein Titel und nicht einmal ein Namenszug."

 

Elena will Lila dieses Heftchen bringen. Sie sucht und findet sie als Arbeiterin in einer Salamifabrik, in der die Arbeiter unter absolut unwürdigen Bedingungen schuften.

Hier verdient Lila den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn Rinuccio. Sie wohnt jetzt mit Enzo zusammen, einem Jugendfreund. Auch er will raus aus dem Elend und lernt. Mathematik und diese neuen Programmiersprachen.

Lila lernt mit ihm zusammen. 

 

Elena begreift, dass sie hergekommen war, "um ihr zu zeigen, was sie verloren und was ich gewonnen hatte."  Das erkennt Lila sofort und reagiert, "indem sie mir praktisch erklärte, dass ich gar nichts gewonnen hatte, dass es auf der Welt überhaupt nichts zu gewinnen gab, dass ihr Leben genauso wie meines voller außergewöhnlicher und unsinniger Abenteuer war und dass die Zeit ganz einfach ohne jeden Sinn verrann und es nur schön war, sich hin und wieder zu sehen, um den verrückten Klang des Gehirns der einen als Echo im verrückten Klang des Gehirns der anderen zu hören."

 

Lila ist diejenige, die für die überraschenden Wendungen im Buch sorgt. Die handelt. Elena ist die Rationale, die mit Bedacht vorgeht. Beide hören nicht auf zu suchen.

 

 

Das Ende: Elena liest in einer Mailänder Buchhandlung aus ihrem Roman. Unter den Zuhörern ist Nino Sarratore, der Junge, in den sie schon als Mädchen verliebt war.

Er verteidigt ihren Roman, den ältere Herren als literarisch minderwertig abstempeln möchten, vor allem die etwas "gewagten Stellen."

Er lobte "die modernisierende Kraft meines Romans."

 

 

 

Auch dieser Roman Elena Ferrantes ist ein brillanter, feinsinniger, lebendiger, anschaulicher, tiefgründiger, vielschichtiger und begeisternder Text. Der seinerseits um eine kleine Erzählung, eine Sammlung von Gedanken und einen Debütroman herum entworfen wurde, die den Kern des Romans bilden.

So, wie Elena sich wünschte, "eine in beiden, beide in einer",

ist hier das Kleine im Großen, das Besondere im Allgemeinen und vice versa ganz wunderbar gestaltet.

 

 

 

 

 

 

 

 

Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens

Übersetzt von Karin Krieger

Suhrkamp Verlag, 2017, 624 Seiten

(Originalausgabe 2012)