Maxence Fermine - Schnee

Schnee, auf französisch "Neige",

ist eine wunderschöne Frau, eine Seiltänzerin, die die tiefsten Schluchten so leicht überwinden kann, dass es scheint, als würde sie schweben.

Sie ist die geliebte Frau eines Mannes, der kurz vor ihrer Begegnung noch ein Samurai gewesen war, der jedoch die Schrecken des Krieges nicht mehr ertragen konnte und die Armee verlassen hatte.

Nach der Geburt ihrer Tochter verzichtet sie auf die gefährliche Leidenschaft und überträgt die Aufgabe des Balance-Haltens auf ihre kleine Familie.

Doch der Drang, noch einmal über ein Seil zu tanzen ist so stark, dass sie es schließlich tut - und zu Tode kommt.

Das Seil war gerissen oder nicht richtig befestigt, sie fällt auf den Grund der Schlucht, ihr Leichnam wird nie gefunden.

 

Soseki, ihr Mann, widmet sich nun vollkommen der Malerei. Er möchte das wahre Licht und die wirklichen Farben malen, diese sieht man nur mit der Seele. Und so gelingt ihm die Malerei, die er immer anstrebte, als er erblindet.

 

Seine Kunst gibt er an einen Schüler weiter, der Dichter werden will. Dieser muss zuerst lernen, dass er nur dann ein Meister in der Poesie werden kann, wenn er auch die Malerei und die Musik beherrscht. Vor allem die Farbigkeit fehlt seinen Haikus. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, denn er besingt ausschließlich den Schnee.

Jede Schneeflocke ist für ihn eine eigene Welt, jeder Lichtreflex ein Universum, jeder Schatten ein Geheimnis.

 

Der junge Yuko, geboren 1867, begibt sich zu Meister Soseki. Er lernt, dass Farbe ein Teil der inneren Welt ist, das Licht zur äußeren Welt gehört - und er lernt, dass die schwierigste und größte Kunst der Welt die Liebe ist.

 

Ich habe hier die nur vom Umfang her kleine, aber sehr konzentrierte Geschichte, eine Novelle klassischen Stils,

vom Ende her wiedergegeben.

Denn Yuko und seinem Lebensweg ist der erste Teil gewidmet, der zweite erzählt die Vergangenheit Sosekis.

Dieser junge Mann ist nicht nur der Schüler des alten Meisters, er wird derjenige sein, der seine Tochter heiratet. Und damit den Kreis der Liebenden und der Suchenden schließt und gleichzeitig öffnet. denn er muss sich noch bewähren im Leben und in der Kunst.

 

Sehr schön sind die Gedanken zur Kunst und zur Dichtung, die Fermine einstreut und die den Faden zwischen den verschiedenen Themen bilden.

 

Eine kleine Leseprobe:

"Inwiefern soll die Kunst des Seiltanzes mir bei meiner Dichtung helfen? ... Warum? Nun, in Wahrheit ist ein Dichter, ein wahrer Dichter, ein Seiltänzer. Schreiben bedeutet, auf dem Seil der Schönheit, dem Seil eines Gedichtes, eines Kunstwerkes, das auf einem Blatt Seidenpergament niedergelegt ist, Schritt für Schritt voranzuschreiten. Schreiben bedeutet, Schritt für Schritt, Seite für Seite auf dem Weg eines Buches vorwärts zu gehen. Das eigentlich Schwierige für den Dichter ist nicht, sich vom Boden zu entfernen und sich mithilfe der Balancierstange, seiner Feder, auf dem Seil der Sprache im Gleichgewicht zu halten. Es besteht auch nicht darin, auf diesem Seil unbeirrt immer weiterzugehen, trotz der flüchtigen kleinen Schwindel, die ihn ergreifen, und sei es durch das Herabfallen eines Kommas oder das Hindernis eines Punktes. Nein, das Schwierigste für den Dichter ist es, unaufhörlich auf diesem Seil des Schreibens zu bleiben, jede Stunde seines Lebens weit über allem anderen auf der Höhe eines Traumes zu schweben, nie vom Seil seiner Imagination herabzusteigen, und sei es nur für einen Augenblick.

Das eigentlich Schwierige ist in der Tat, ein Seiltänzer der Sprache zu werden."

 

Die Sprache der Novelle ist klar, die Geschichte hat die Kraft und das Geheimnisvolle eines Märchens.

Die japanische Kunst des Haikus, einem Gedicht mit drei Versen und exakt siebzehn Silben, das nie alles sagt, aber immer einen direkten Bezug zur Gegenwart hat und sich erst beim Lesen, also durch den Leser, vervollständigt, ist in Fermines Geschichte nachgebildet.

Sie ist oberflächlich schlicht und offensichtlich, sehr viel liegt jedoch wie unter einer Schicht aus Eis. Jenem durchsichtigen und harten Stoff, der Welten voneinander trennen kann.

 

 

 

 

 

 

 

Maxence Fermine: Schnee

Übersetzt von Monika Schlitzer

Unionsverlag, 2016, 112 Seiten

(Französisches Original 1999)