Gerdt Fehrle - Unter uns das stille Land
Am 2. Juni 1953 erhält Linda Morrisson einen Anruf. Sie schaut sich gerade die Krönung der jungen Elisabeth zur Königin von England an. "Wir haben ihn gefunden, Madam." Der Gefundene ist Ben, Lindas Freund aus Jugendtagen.
Er war Flieger bei der Royal Air Force und Linda zufällig die Letzte, mit der er bei seinem Einsatz über Dresden per Funk Kontakt hatte.
Dann war er abgestürzt, acht Jahre lang wusste Linda nicht, ob Ben überlebt hat oder nicht. Und ob der Absturz Verrat war oder nicht.
Ben Whitley "war quasi vom Himmel gefallen. Das war Anfang 1933 gewesen, genauer gesagt am 12. Februar, mitten im Schultrimester..."
"Das ist unser neuer Mitschüler Benjamin Whitley. Ben hat viel Schlimmes erlebt. ... Nehmt ein wenig Rücksicht auf ihn, er ist traumatisiert. Und du, Linda, gibst mir ganz besonders gut auf ihn acht. Versprochen?"
Linda, zwölf Jahre alt wie Ben, ist wenig begeistert von
dieser Aufgabe, die die Lehrerin ihr da stellt. Sie kann Ben spontan nicht leiden, aber sie wagt nicht, Mrs. Bloom zu widersprechen.
Fortan kümmerst sie sich um Ben, wie es ihr aufgetragen wurde. Ben hat Schwierigkeiten im Unterricht, einzig im Fußball ist er gut - hier wird er sogar zum Helden, hier gibt
er alles. Er lebt bei seiner Tante Lu, einer ziemlich verschrobenen alten Frau. Deshalb ist er froh, dass Linda ihn häufig mit zu sich nach Hause nimmt. Ihre Mutter, Gwendolin Schoolcraft, mag ihn zwar auch nicht wirklich, aber mit ihrem Vater Charles versteht Ben sich gut. Wichtig ist, dass er hier ins Familienleben miteinbezogen wird und eine Art neue Heimat findet.
Alles ändert sich, als Premierminister Chamberlain am
3. September 1939 verkündet, England befände sich im Krieg mit Deutschland. Wenig später ist Charles Schoolcraft tot.
Er hat sich erschossen. Bei der Beerdigung ist kein Mitglied der Familie anwesend, Ehefrau und Kinder sind wie vom Erdboden verschluckt, das Haus wird von der Polizei bewacht. Gerüchte gehen um, Schoolcraft könnte ein
Verräter sein, ein Spion für Deutschland.
Verdächtigungen, bewiesen ist nichts.
Ben hatte schon vor Beginn des Krieges verkündet:
"Wenn es losgeht, werde ich Pilot." Er entwickelt sich zu einem hervorragenden Jäger, in seiner Spitfire ist er voll und ganz in seinem Element, er ist kaltblütig wie kein anderer und sehr erfolgreich im Abschießen deutscher Flugzeuge.
Von Anfang an ist klar, dass es ein Geheimnis um Ben gibt.
Er hofft, "dass alles gut gehen, ihm niemand auf die Schliche kommen würde. Und dass eines Tages die Botschaft, die erlösende Botschaft doch endlich kam, ein Zettel oder was auch immer. Und da würde sie dann stehen, die Nachricht.
So stellte er sie sich immer vor. Ein paar Zeilen, ein Datum, ein Ort, mit Bleistift auf einem gelben, zerknüllten Zettel. Und dann würde wirklich alles anders werden. Alles."
Neben Charles Schoolcraft ist Ben nicht der Einzige, von dem einiges im Dunkeln bleibt. Es gibt noch eine Blondine, die plötzlich auftaucht, sie könnte es auch gewesen sein, die Linda anruft und in ein Café bittet.
An jenem Abend, an dem Coventry in Schutt und Asche gelegt wird und Linda nur durch großes Glück, das schon einem Wunder gleichkommt, überlebt.
Als Linda einigermaßen genesen ist, geht sie nach London. Sie sucht ihren Retter, den Kriegsfotografen Summers auf, drängt sich ihm und seiner Freundin Peggy richtiggehend
auf und lebt quasi bei ihnen.
Dadurch verlagert sich das Geschehen weg von Wells und Coventry nach London.
Ergänzt durch kleine, fast vorsichtige Einschübe mit Berichten von einem älteren Ehepaar, das in einem Versteck mit Blick auf die Frauenkirche lebt.
Linda wird nach Wells zurückkehren, wie auch schon vor ihr ihre Mutter Gwen. Um dort mit ihrem jungen Liebhaber die Schrecken des Krieges wenigstens stundenweise zu vergessen. Als Linda ankommt, ist Gwen jedoch schon längst wieder verschwunden, wo, das findet Linda nicht heraus.
Es kommt zu einer schmerzhaften Wiederbegegnung mit Ben, die beinahe tödlich endet.
Der Krieg hat der Zivilisation und den Seelen schwer zugesetzt.
Ben, Linda, Gwen und Charles sind nebst Summers die handelnden Personen. Die Orte: Wells, Coventry, London und Dresden. Die Zeit: 1933-45.
Der Roman beschreibt, was der Krieg für England bedeutet, wie die Menschen in London und in der Provinz damit umgehen. Welchen Mut es braucht, um nicht unterzugehen. Welche Ängste Ben auszustehen hat, weniger im Flugzeug als vielmehr vor der Entdeckung. Und das quälende Warten auf die "Botschaft." Die unglaubliche Zwickmühle, in die Ben gerät, als er weg vom Jagdflugzeug soll und statt dessen einen Bomber fliegen, der seine tödliche Fracht über Dresden abwirft.
"Bomben auf Deutschland, von seiner Maschine aus, dachte Ben mit Schrecken. So weit durfte es nie kommen. Wenn er das tun würde, wäre alles umsonst gewesen, dann würde sich das Schicksal, dem er mit so viel Kraftaufwand und seit so langer Zeit trotze, erfüllen."
Linda wird als Zeichen seiner Loyalität genau das von ihm verlangen.
Das ist alles sehr anschaulich erzählt, interessant ist der Roman aber vor allem aufgrund seiner ausgeklügelten Konstruktion. Es wird eine große Spannung dadurch aufgebaut, dass in den Erzählfluss hinein immer wieder Hinweise gestreut werden, worin die Geheimnisse der verschiedenen Personen liegen könnten. An welchen Stellen sie sich berühren oder sogar voneinander abhängen, obwohl eine der betreffenden Personen nichts davon weiß.
Es gibt nicht die eine Hauptperson, aus deren Perspektive alles geschildert wird. Die Geschichten von Ben und Linda werden parallel erzählt, das schafft Weite und Vielfalt.
Die historische Zeit bildet nicht nur den Hintergrund, sie ist das dramatische Element, das die Entwicklung vorantreibt.
Alles in allem wäre es stark verkürzt, den Roman als Liebesgeschichte zu bezeichnen, auch wenn Bens Herz natürlich für Linda schlägt, vor allem als ganz junger Mann...
Gerdt Fehrle: Unter uns das stille Land
Louisoder Verlag, 2015, 494 Seiten