Theres Essmann - Federico Temperini

Die Novelle beginnt mit einem Anruf bei dem Taxifahrer Jürgen.

Der Anrufer möchte keine Taxifahrt bestellen, sondern einen Chauffeur, jemanden, der ihn fährt, dort wartet und ihn dann wieder nach Hause bringt.

 

Das Erscheinungsbild des Herrn um

die achtzig passt zu diesem etwas altertümlichen, exklusiven Wunsch: er ist sehr schmal, trägt einen schwarzen Anzug, einen schwarzen Mantel, lässt sich die Wagentür öffnen und in die Philharmonie fahren.

Auf dem Rückweg legt er Jürgen einen Umschlag aus Büttenpapier auf den Beifahrersitz, darin befindet sich sein "Honorar". Ganz "alte Schule" stellt Jürgen fest.

 

Im Laufe einiger Fahrten, die zuerst ausschließlich zum Konzerthaus führen, später auch zum Friedhof oder an einen See, kommen sich die beiden sehr unterschiedlichen Männer näher. So nah, dass Jürgen Federico Temperini von seinem Sohn Leo erzählt. Dieser lebt bei der Mutter, zusammen mit dem Stiefvater. Dass Leo sich mit diesem gut versteht ist ein Dauerschmerz in Jürgen, auch wenn sein Verstand sagt, dass es doch wunderbar für den Jungen ist. Sechzehn ist er nun,

es wird nicht einfacher, den Kontakt zu halten. Jürgen hat Angst, Leo zu verlieren.

 

Schnell fiel Jürgen auf, dass die linke Hand Temperinis "komisch"  ist. Was genau damit passierte erzählt er nie, aber, dass diese Krankheit ihn seine Karriere als Geiger kostete.

Er war ein großer Star gewesen, wurde verglichen mit Paganini, dem Teufelsgeiger.

 

Dieser Musiker, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts rauschende Erfolge feierte, "dessen großartige Virtuosität ja bekanntlich auf Kosten seiner Gesundheit ging" ist ein Spiegel für Federico Temperini. Man könnte auch sagen eine Obsession. Er kennt jedes Detail aus Paganinis Leben und Werk, alles wir an diesem gemessen.

 

Auch der alte Herr und Leo lernen sich kennen. Und Jürgen erfährt, dass sein eigener Vater, der noch ein Chauffeur mit Uniform und besten Umgangsformen war, den damals berühmten Geiger schon gefahren hat.

 

So spannt Theres Essmann einen Bogen über die Generationen hinweg. Ein Mosaiksteinchen nach dem anderen fügt sie hinzu, am Ende entfalten sich mehrere Geschichten über Väter und Söhne vor den LeserInnen.

Die Novelle erzählt von Sprachlosigkeit und Einsamkeit, Verlust(Ängsten) und Sehnsucht - im gleichen Maß jedoch von Freundschaft und Menschlichkeit.

 

Die Frage, was denn die `unerhörte Begebenheit´ ist, die seit Goethe die Novelle definiert, ist nicht so einfach zu beantworten. Es gibt kein dramatisches, einzigartiges Ereignis in dieser Erzählung, aus dem sich die Handlung entfaltet. 

Das Besondere ist für mich die Art, in der Theres Essmann die Geschichte vorantreibt. Federico Temperini erzählt immer mittels Paganini von sich selbst, dieser ist quasi die dritte Person im Taxi. Und er legt dem Umschlag bald Konzertkarten, Fotos oder Zeitungsausschnitte bei, die einen Aspekt seines Lebens preisgeben. Diese zarte und rücksichtsvolle Art der Enthüllung ist es, die der Novelle ihre Besonderheit gibt.

 

Dabei schlägt sie aber keinen antiquierten Ton an, im Gegenteil. Jürgen und seine Kumpels sind ganz und gar Zeitgenossen, manchmal ein bisschen rustikal.

So assoziiert Jürgen die Mondsichel mit einem abgebissenen Fingernagel. Oder: bei einem gemeinsamen Gang über den Friedhof erzählt Temperini "von Paganinis ruheloser Leiche. Der Graf hatte den Leichnam jahrzehntelang versteckt, also quasi zwischengelagert, und zwar zunächst im Keller seiner Villa. Wie Winterreifen, dachte ich." 

 

Aber all die Unterschiede in wirklich jeder Hinsicht zwischen den beiden Männern verhindern nicht, dass sie sich einander öffnen. Am Ende bezeichnet Jürgen sich als Temperinis "Freund". Und indirekt trägt der "alte Herr" auch dazu bei, dass das Verhältnis zu Leo sich klärt und verbessert.

 

Eine kluge Geschichte, die viel erzählt, aber nicht über-frachtet ist. Die verschiedene Tonlagen anschlägt und jedes Kapitel so enden lässt, dass man nicht umhin kommt, das folgende sofort zu lesen...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Theres Essmann: Federico Temperini, Novelle

Klöpfer, Narr, 2020, 164 Seiten