Marguerite Duras - Der Liebhaber

Marguerite Duras kam 1914 in Saigon, damals Französisch-Indochina, zur Welt. Mit siebzehn Jahren ging sie nach Paris, um dort Mathematik, später Jura und Politikwissenschaft zu studieren.

Ab 1940 gehörte sie zur Résistance, vier Jahre später trat sie der Kommunisti-schen Partei bei, aus der sie 1950 wieder ausgeschlossen wurde. Neben Romanen schrieb sie Drehbücher und Theater-stücke, in denen sie immer wieder Tabuthemen aufgriff.

 

Ein solches Tabuthema ist auch die Liebe oder das sexuelle Verhältnis einer fünfzehnjährigen, in Saigon lebenden Französin, und einem zwölf Jahre älteren Chinesen.

 

Er ist der Sohn eines sehr reichen Mannes, heute würde man sagen eines Immobilienmoguls, der das Mädchen auf einer Fähre entdeckt.

Sie steht an der Reling, trägt zu einem verschlissenen Seidenkleid einen Herrenhut und goldene Sandalen.

Eine merkwürdige Aufmachung für ein Schulmädchen,

eine sehr auffallende.

 

Aus dieser ersten Begegnung entwickelt sich eine Liebes-beziehung. Der Chinese lässt das Mädchen fortan mit seiner Limousine von der Schule abholen. Jeden Abend verbringt sie bei ihm, lässt sich von ihm waschen, ins Bett tragen und lieben. Die beiden erleben zusammen unglaubliche Höhen der Lust, die sich bei jeder Begegnung noch steigert.

 

Weiß ihre Mutter davon? Ja, und doch wird so getan, als existiere diese Liebe nicht. Zwar lädt der Chinese die ganze Familie, die Mutter, das Mädchen und ihre beiden Brüder,

in teure Restaurants zum Essen ein, doch keiner richtet ein Wort an ihn, nicht einmal ein Dank zum Abschied.

 

Ist es Prostitution? Sein Geld spielt sicher eine Rolle, doch es ist etwas ganz anderes.

 

Die gealterte Schriftstellerin erzählt aus der Erinnerung heraus die Geschichte des Mädchens aus Saigon.

Manchmal schreibt sie "Ich", dann wieder  "das Mädchen" oder "die Kleine". Wann sie welche Position verwendet, ist fließend, wie der gesamte Aufbau des Buches.

Es besteht aus Miniaturen, die zusammengesetzt die ganze Geschichte ergeben, die zu verschiedenen Zeiten an diversen Orten spielt. Sie umfasst wesentlich mehr Personen, als das Mädchen und ihr Liebhaber.

 

Eine wichtige Figur ist ihre Mutter. Früh verwitwet, finanziell am Rande, Direktorin einer kleinen Schule auf dem Land und mit der Erziehung ihrer drei Kinder komplett überfordert. Sie leidet an Schwermut, Lebens-Verzweiflung, sie wendet sich allein dem ältesten Sohn mit Liebe zu, den jüngeren nimmt sie kaum wahr, auch die Tochter nicht.

Da aus beiden Jungen nichts geworden ist, setzt sie die Hoffnungen auf ihre Tochter, unbedingt soll sie ein Examen in Mathematik an der höheren Schule machen.

Die Tochter bezeichnet ihre Mutter als "wahnsinnig", doch sie weiß auch, wie unglücklich die Mutter ist, eine "vom Elend Geschundene."

 

Der ältere Bruder ist ein Spieler, der das Vermögen der Familie durchbringt. Er scheint ein große Macht auf andere Menschen ausgeübt zu haben, denn sowohl der jüngere Bruder, der mit Mitte zwanzig stirbt, als auch das Mädchen fürchten sich vor ihm. "Ich komme gegen die stummen Befehle meines Bruders nicht an..."

 

Beleuchtet werden ebenso einige Mitschülerinnen, vor allem die andere Weiße, die im Internat wohnt. Es ist wichtig für das Renommee des Hauses, dass dort auch weiße Schülerinnen sind -  der Alltagsrassismus in der Kolonie ist ein Thema, das sich durch das ganze Buch zieht.

 

Zwar ist die Familie des Mädchens mehr oder weniger verarmt, doch sie sind immer noch "die Weißen".

Der Chinese, der sich dem Mädchen nähert, tut dies mit der Ehrfurcht eines Menschen, der weiß, dass ihm diese Person eigentlich nicht zusteht. Ganz abgesehen vom Alter, ist sie ein Mensch, der in einer anderen Spähre derselben Welt lebt. Sein Reichtum, bzw der seines Vaters, müsste ihn ihr überlegen machen, doch das ist per se unmöglich.

 

"Meine Brüder werden nie das Wort an ihn richten. Als sei er unsichtbar, als fehle ihm die Konsistenz, um von ihnen wahrgenommen, gesehen, gehört zu werden. Und zwar deshalb, weil er mir zu Füßen liegt, weil vorausgesetzt wird, dass ich ihn nicht liebe, dass ich wegen des Geldes mit ihm zusammen bin, dass ich ihn nicht lieben kann, dass dies unmöglich ist, dass er alles von mir erdulden würde, ohne in seiner Liebe nachzulassen. Und dies, weil er ein Chinese ist, weil er kein Weißer ist."

 

Sie liebt an ihm die zarte Haut, seine Schwächlichkeit, er ist ein schmaler Asiat, ganz anders als die europäischen Männer. Sie gibt sich ihm hin, es ist ihr Wunsch.

 

"Es konnte nicht darum gehen, das Begehren auf sich zu ziehen. Es war in derjenigen, die es herausforderte, oder es existierte nicht. Es war vom ersten Blick an da oder es hatte nie existiert. Es war die jähe Vorstellung einer Vereinigung oder es war nicht. Auch das wusste ich schon vor dem Experiment."

 

Und, ganz am Anfang des Buches, als die Autorin in den 1980er-Jahren über sich und das Mädchen nachdenkt:

"Dieses vom Alkohol gezeichnete Gesicht habe ich vor dem Alkohol bekommen. Der Alkohol sollte es nur bestätigen.

Es war in mir ein Platz dafür, ich wusste es wie die anderen, nur seltsamerweise im voraus. So wie in mir auch ein Platz für das Begehren war. Ich hatte mit fünfzehn ein Gesicht der Lust und kannte die Lust nicht. Dieses Gesicht war sehr deutlich. Selbst meine Mutter musste es gesehen haben. Meine Brüder sahen es. Alles begann für mich so, mit diesem sehenden, mitgenommenen Gesicht, diesen vor der Zeit umränderten Augen, vor dem Experiment."

 

Ein Lebens-Experiment also? Es klingt auch ein wenig

nach Schicksal, Vorbestimmung, Vorzeichnung, was im Gegensatz zum Experiment stehen würde. 

In dieser Schwebe hält sich der ganze, autobiographisch gefärbte Roman, der, ich kann es nur wiederholen, wesentlich mehr zur Sprache bringt als eine Liebes-geschichte.

Durch die vielen Sprünge, die Duras macht, ist er sehr vielfältig und spannt einen Bogen vom kolonialen Indochina zum Kriegs - und Nachkriegs-Paris, wechselt von politischen zu philosophischen Gedanken, erzählt die Geschichte einer zerfallenden Familie und stellt die Frage nach der Liebe.

Viele Themen für einen schmalen Roman, der trotzdem der Fülle nicht oberflächlich ist, sondern sehr konzentriert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marguerite Duras: Der Liebhaber

Übersetzt von Ilma Rakusa

Suhrkamp Verlag, 2010, 193 Seiten

Suhrkamp Taschenbuch, 2014, 143 Seiten