Dorothea Dieckmann - Kirschenzeit
Dorothea Dieckmann erzählt eine feine Mutter-, Tochter- und Kunstgeschichte. Geprägt von großer Sprachachtsamkeit - sie versteht und setzt die Worte von der Wurzel her, führt sie auf ihren Ursprung zurück - spürt sie einem sehr komplexen Verhältnis nach. An zwei Tagen spielt die Geschichte, an einem berühmten Ort: in Colmar, dort, wo der Isen-heimer Altar die Touristenmassen anzieht.
Die Mutter, sie wird als "die Reisende" bezeichnet, fährt mit dem Auto nach Colmar. Sie genießt das Alleinsein, erinnert sich an eine lange zurück liegende Reise. Damals saß sie auf dem Beifahrersitz, den Mann neben sich nennt sie den "Flieger", ein Pilot, ihr damaliger Partner. Auf dem Rücksitz saß nicht etwa die Tochter, sondern die Angst.
Nun fährt sie ohne diese Angst, im "dunkelroten Monat" August. Ihr vor Augen schwebt das Bild "Der Sommertag" von Arnold Böcklin, es ziert auch den Umschlag des Buches.
Es ist für sie die Zeit der "späten Kirschen", der "klaren Tage", der "vollen Sättigung". Sie fährt den Schreckensbildern des Isenheimer Altars von Grunewald entgegen - die Begegnung mit diesem wird viel Raum einnehmen in der Erzählung.
Doch zuvor kommt das Treffen mit der Tochter, die aus der entgegengesetzten Richtung angereist ist.
Sie sitzen zusammen im Café, tasten sich langsam anein-ander heran, die Mutter ist sehr vorsichtig.
"... Rückkehr zum Vater aller Tochtergedanken: ihr nicht zu nahe treten, nicht die Verfügung übernehmen; sie freilassen, frei vor allem von ihr, der Mutter gegenüber."
Es blenden sich Bilder aus der Vergangenheit über die der Gegenwart, immer wieder, während des ganzen Zusammenseins.
"Meine Geschichte will nur die Zwei erforschen: die Beiden, das Wiedersehen, die Wiederreise. Den zweiten Blick, der ein anderer ist, ein erster anderer."
So die Erzählerin, die sich durchgängig als ein "Ich" in die Geschichte einschreibt. Sie schwebt nicht als allwissende Erzählerin über dem Geschehen, sie gibt sogar Einblicke in ihre `Werkstatt´, mit Hinweisen zum Beispiel, wen sie später noch einmal auftreten lassen möchte.
Diese Ich-Erzählerin, die die Fäden in der Hand hält, gibt
der Geschichte eine weitere Dimension. Sie betrachtet gleichzeitig von Innen und von Außen.
Teil eins beschreibt die Annäherung der Mutter an die Stadt, die Anreise, Teil zwei die Annäherung an die Tochter.
Der dritte Teil ist eine Rückblende zu einer Reise vor gut zehn Jahren auf eine Kanareninsel. Im vierten und fünften Teil treten Mutter und Tochter vor den Altar.
Die Empfindungen und Gedanken, die der Anblick dieses berühmten Kunstwerks auslöst, sind eine Geschichte innerhalb der Geschichte. Die Erzählerin verschränkt genaue Beschreibungen des Bildes mit dem, was es bei der Betrach-terin auslöst - der Lesende kann nicht umhin, sich selbst in die Altarbilder zu vertiefen, um den Gedanken folgen zu können.
Und auch über den Altar hinaus - "Vor dem Chor der Klosterkirche jagten zwei Kinder einander auf dem Pflaster im Kreis herum, und beim Aufmerken auf ihre feinen Schreie machte die Reisende eine Entdeckung: In den hohen Strebepfeilern des den Quertrakt überragenden Kirchen-schiffs kehrten die Pappelstämme wieder, giorno d´estate (Böcklins "Ein Sommertag"), ihre himmelstützenden Vertikalen über den Kinderkörpern am Fluss."
Das ist grandios erzählt!
Nach dem Besuch des Altars treten die beiden Frauen wieder in die `normale´ Welt zurück. Sie gehen in ein Café.
"Sie warteten, rauchten, redeten. Was? Ach, was! Leben halt, was sonst, das, was einmal Freud und Leid hieß, in allen möglichen Verbindungen - darüber redeten sie und phantasierten und analysierten. Die Mutter fragte, die Tochter erzählte und erklärte, die Mutter fädelte sich ein, die Fäden liefen gemeinsam weiter, bildeten Schlaufen, Kurven, Kreuzungen. Je schneller und einfacher sich ein Muster aus dem anderen ergab, je näher sie dabei zusammenarbeiteten und je weniger die Arbeit Arbeit war, desto mehr wurde die Mutter wieder zur Reisenden."
Zu der, die im zweiten Blick den ersten sucht?
"... ein zweiter, der den ersten erneuert, indem er ihn - nein, nicht freilegt (wie ginge auch das?), sondern verwandelt.
Ein zweiter Blick für all die ersten Blicke."
Der Tochter ihre Freiheit zu lassen, sich als Mutter zurück
zu nehmen, dieses Anliegen zieht sich durch die gesamte Erzählung. Es könnte ein Nachhall des 1993 erschienen Buches "Unter Müttern - Eine Schmähschrift" sein, in dem die Autorin gegen den Kontrollwahn und die Vereinnahmung des Kindes durch die Mutter anschreibt.
Dieses Ansinnen breitet sie in der Erzählung "Kirschenzeit" freilich wesentlich feinsinniger, vielschichtiger und poetischer aus.
Der sechste und letzte Teil erzählt den Morgen danach.
Die Erzählerin streift noch einmal zum Altar zurück, Mutter, und Tochter, also zwei Töchter, eine jüngere und eine ältere, sprechen über Wirklichkeit, Träume, die Muttersprache, über die Mutter der Mutter, Schneewittchen und Dornröschen blitzen auf.
Sie endet versöhnlich, die Begegnung der beiden Töchter:
"Sie, meine beiden, waren sie nicht frei? Frei, die Hand der andern zu halten und wieder loszulassen.
Frei, das Notwendige zu tun, geschäftig: zahlen, zum Hotel laufen, Gepäck abholen, im Fiat verstauen, zum Bahnhof fahren."
Die vielseitige Autorin Dorothea Dieckmann, geb. 1957,
hat mit dieser Erzählung einen Text geschaffen, in dem
jeder Satz, jeder Absatz seinen Rhythmus hat, in dem jedes Wort zählt.
So, wie jeder Pinselstrich auf einem Gemälde wichtig ist, wie jedes dargestellte Detail für sich genommen eine Bedeutung hat, die sich in der Zusammenschau mit anderen Details vervielfacht, schafft sie ein eindringliches Wort-Bild,
das Vergangenheit und Zukunft, Kunst und Leben vereint.
Dorothea Dieckmann: Kirschenzeit, Eine Erzählung
Faber & Faber, 2019, 112 Seiten