Giacchino Criaco - Die Söhne der Winde
Dieser Roman um die drei Freunde Nicola, Filippo und Antonio spielt in Africo, Kalabrien. Die Kleinstadt mit 3000 Einwohnern liegt etwas östlich von Reggio, der Tourismus ist kaum entwickelt, obwohl der Ort an der Küste des Ionischen Meeres liegt. Einnahmequellen sind die Landwirt-schaft und die Produktion von Zement.
Im Jahr 1951 wurde das alte Africo durch einen Erdrutsch zerstört, das neue wurde schnell und billig an anderer Stelle aufgebaut. Näher am Meer, stärker den verschiedenen Winden der Stiefelspitze Italiens ausgesetzt.
Zwischen dem frischen Zephyr und dem heißen Bruschiu versuchen die Menschen irgendwie zurecht zu kommen.
Die drei Freunde leben alle in der Aurora. Das ist ein großer Häuserkomplex, ihr Viertel, ihre Heimat. Jeder kennt jeden, es ist ein Dorf innerhalb des Dorfes, die Bewohner halten zusammen wie Pech und Schwefel. Keiner dringt hier von außen ein, akzeptiert wird nur, wer hier geboren wurde.
Der Roman beginnt mit einem Festtag, mit der Prozession des hl. Sebastian. Dreimal jährlich findet diese statt, jedes Mal muss der Heilige ein anderes Wunder vollbringen.
Im Januar fällt ein Stier und ersteht als Lamm wieder auf -
ob ihm dies auch dieses Jahr gelingen wird?
Die drei Jungs, die mancherlei Unfug anstellen, wollen es genau wissen und begehen ein Sakrileg: sie bohren ein Loch in die Mauer des Stalles, an dem sich das Wunder vollzieht, abgeschirmt vor den Augen der Menge.
Das Wunder geschieht, die Fünfzehnjährigen wissen nun wie.
In gewisser Weise verlieren sie mit dieser Aktion ihre Unschuld. Als sie kurz darauf von zwei jungen Männern in einer Bar angesprochen werden, ob sie nicht eine kleine Dienstleistung für sie ausführen wollten, überlegen sie nicht lange. Sie wissen zwar nicht ganz genau, worauf sie sich einlassen, aber dass es etwas ungesetzliches ist, das wissen sie.
"Unzählige Gedanken gingen mir durch den Kopf, aber die fünfzigtausend Lire brachten sie zum Schweigen."
Dieser Gedanke Nicolas, der die Geschichte aus seiner Sicht erzählt, ist das Fundament, auf dem die Gesellschaft lebt:
da es so gut wie keine Arbeit gibt, hat das Gewissen keine Stimme. Geld muss verdient werden.
Nicolas Vater ist schon vor Jahren nach Deutschland gegangen, er arbeitet bei Volkswagen, wie viele andere Männer auch. Africo ist ein Dorf der Alten, Frauen und Kinder. Wer die Mutprobe besteht, von einem bestimmten Felsen ins Meer zu springen, ist reif, das Dorf/Land zu verlassen.
Nicolas Mutter arbeitet als Jasminpflückerin auf den Feldern.
Als Tagelöhnerin. Nachts werden die Frauen von einem LKW abgeholt, nach zwölf Stunden Arbeit kommen sie wieder nach Hause. Verdient haben sie kaum etwas.
Und Nicola hat zwei Schwestern, die einmal eine Aussteuer brauchen. Und der Vater schickt kein Geld mehr.
Was bleibt ihm?
Die fünfzigtausend Lire sind sehr willkommen, er schleust sie in kleinen Portionen ins Haushaltsgeld mit ein.
Offiziell arbeitet er am Wochenende als Kellner, er bessert den Verdienst durch das illegal verdiente Geld auf und gibt
es der Mutter.
Ein Lichtblick für alle im Dorf ist der Revolutionär Papula.
Er hält flammende Reden, macht den Menschen klar, dass sie Rechte haben, dass sie zusammenhalten und aufstehen müssen gegen die Signori, die Großgrundbesitzer, die Bau-unternehmer und die, die immer bei allem mitkassieren.
Tatsächlich kommt es zu Streiks - Nicolas Mutter erstreitet stellvertretend für alle Frauen wesentlich bessere Arbeits-bedingungen - Papula setzt einen Halt des Zuges in Africo durch. Ein Bahnhof bedeutet Anschluss an die Welt.
Bislang hielt immer nur der Pellaio, jener Zug, der die Männer einsammelt und in den Norden bringt.
Auf den gewöhnlichen Zug mussten die Leute aufspringen,
er verlangsamte lediglich die Fahrt.
Papula will neue Einkommensquellen auftun, er eröffnet eine Bäckerei, die ihre Ware um den halben Preis anbietet - bei ihm verdient nicht die Mafia mit.
Hoffnung keimt auf im Dorf.
Irgendwann gehen die Demonstranten in den Augen des Staates zu weit. Es kommt zu regelrechten Schlachten,
eine Armee von 300 Kämpfern für die Revolution steht
600 Carabinieri gegenüber. Papula wird von einem Schuss getroffen, er überlebt knapp, verlässt dann aber das Dorf.
Und mit ihm alles, was Hoffnung gegeben hatte.
Die Jungs bekommen weitere Aufträge der beiden Männern.
Zur Schule gehen sie sowieso schon lange nicht mehr,
bzw. höchstens drei Tage die Woche. Die restliche Zeit verbringen sie in der Bar.
Die Freunde geraten schließlich so weit in die Machen-schaften der beiden Männer hinein, dass sie das Dorf verlassen müssen. Sie finden Zuflucht in den Bergen.
Hier erleben sie zum ersten Mal die Natur.
Zwar liegt das Dorf inmitten der Natur, doch sie haben ihr Viertel nur verlassen, um in den Nachbarort zu fahren oder später nach Reggio, um ihre Geschäfte zu machen.
Die Berge erscheinen ihnen nun wie ein fremder Planet.
Sie lernen das traditionelle Leben der Hirten kennen, aber auch von diesem Beruf kann niemand mehr leben.
Der Roman ist sehr detailliert erzählt. Der Leser verfolgt jeden Schritt, jeden Gedanken und jedes Gefühl der Protagonisten. Das lässt tief eintauchen in eine Welt, die einem bekannt vorkommt - es sind fünfzehnjährige Jungs, die ihren Weg suchen, wie überall auf der Welt - und zugleich ist sie mit ihren Ritualen und Gewohnheiten auch fremd.
Die Ereignisse des Dorfes werden aufbewahrt in sogenannten cunti, das sind Erzählungen, in denen sich wahre Begebenheiten mit Legenden und Sagen mischen, in Märchen verwandelt und von den alten Frauen abends am Kohlebecken wieder und wieder erzählt werden.
Sie bilden einen kollektiven Schatz an Verbindungen zwischen Personen, Orten und fernen Zeiten. Sie jagen Angst ein und schaffen Vertrauen, sie ersetzen Geschichtsbücher und Geschichtenbücher und für alle ein Halt in einer auseinander fallenden Welt.
Rührend ist die Zuneigung innerhalb der Familien, die Solidarität der Frauen, tragisch ist die Hoffnungslosigkeit.
Durch das Abwandern der Männer lösen sich Strukturen auf, neue werden nicht durch eine Emanzipation der Frauen gebildet, sondern durch die Mafia. Sie verhindert eine Entfaltung der Kräfte, das wäre schädlich fürs Geschäft.
Figuren wie Papula, der Revolutionär, oder der forsche Rocco, der Barbesitzer, scheitern, auch die drei Freunde werden kein Glück haben im Leben.
Criaco, geboren 1965, der selbst aus Africo stammt und nach zwanzig Jahren als Anwalt in Mailand dorthin zurück kehrte, kennt das Land und die Menschen dort. Er schafft mit seinen Figuren einen sehr persönlichen Zugang zu den Menschen und den Problemen, mit denen sie zu kämpfen haben.
Er beschreibt drei Jungs, die am Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein stehen, die ihr erstes Bier trinken, anfangen zu rauchen, vor dem Gymnasium stehen, um die schönen Mädchen anzuschauen, die davon träumen, Geld zu verdienen, um ihre Familien zu unterstützen.
Antonio beispielsweise ist ohne Zweifel intelligent genug, um das Gymnasium und die Universität zu besuchen,
aber er arbeitet halbtags in einem Frisörsalon, klaglos,
er weiß, seine Mutter braucht das Geld.
Es ist wenig erstaunlich, wie leicht das Spiel der Mafia mit den jungen Menschen ist.
Ein Kapitel des Buches heißt "Die Kinder des Schattens".
Das sind sie. Der Autor lässt sie jedoch ans Licht treten und ihre Geschichten erzählen.
Der letzte Teil, "Die Jungs der Aurora", ist rückblickend erzählt. Nicola kommt nach langer Zeit zurück, um mit der Mutter deren letzte Nacht in der Wohnung zu verbringen. Nur wenig erfährt der Leser von dem, was er in der Fremde gemacht hat.
Seinen Wunsch erfährt man: "Ich wünsche mir, dass das Ionische Meer und der Zephyr endlich nicht mehr das Leben betrügen und Frieden mit dem Libeccio schließen."
Der Libeccio ist ein weiterer Wind, der Wunsch Nicolas heißt ohne die blumige Umschreibung einfach: Frieden.
Gioacchino Criaco: Die Söhne der Winde
Übersetzt von Karin Fleischanderl
Folio Verlag, 2019, 336 Seiten