John Clare - Reise aus Essex
und andere Selbstzeugnisse
John Clare (1793-1864) wird in England in einem Atemzug mit Keats, Wordsworth und Coleridge, den großen Namen der Romantik, genannt.
Berühmt sind vor allem seine Naturgedichte. In Deutschland ist er weitgehend unbekannt, nun liegt erstmals eine Auswahl seines Werkes auf Deutsch vor. Der Schwerpunkt liegt auf autobiographischen Schriften, abgerundet wird die Zusammenstellung durch einige Gedichte und Briefe aus der Zeit nach seiner Flucht aus einer psychiatrischen Anstalt.
Clare kommt aus einfachsten Verhältnissen. Die Eltern sind Landarbeiter, die Schule besucht er bis zu seinem zwölften Lebensjahr. Danach verdingt er sich als Hütejunge, er arbeitet auf den Feldern, als Gärtner und als Kalkbrenner.
Im Elternhaus wird Musik gemacht, Balladen und Märchen werden erzählt, Clare lernt Fiedel spielen.
Hier also kommt er in Berührung mit dem, was er in seinem ganzen Leben am liebsten macht: reimen und dichten.
Wann immer es ihm möglich ist, sinnt er über kleine Lieder nach, die er ausarbeitet und verfeinert. Anfangs gibt er diese Texte als die Gedichte eines anderen aus, weil er zu schüchtern ist, zuzugeben, dass er sie geschrieben hat.
Doch er wird mutiger und macht sich schließlich auf die Suche nach einem Buchhändler, der seine Schriften verlegt.
Das Thema Buchhändler, Drucker und die wirtschaftliche Seite der Schriftstellerexistenz ist ein Thema, das sich durch seine autobiographischen Schriften zieht.
Es ist kaum eine Überraschung, dass er einige Geschäftspartner eher als Halsabschneider empfindet.
Doch als endlich sein erster Gedichtband erscheint, ist er ein großer Erfolg. Clare wir mehrfach nach London eingeladen, alle möchten diesen Bauerndichter sehen.
Leser und auch Kritiker sind beeindruckt von der profunden Kenntnis der Landschaft und der unverstellten und tiefempfundenen Darstellung der Schönheit der Natur.
Auf diese erfolgreiche Phase folgt ein Sinken seines Sterns.
Leser und Gönner wenden sich ab, Clare fühlt sich missverstanden. Dazu kommt wirtschaftliche Not, denn reich wurde er mit seinen Gedichten freilich nicht.
Eine depressive Erkrankung bringt ihn 1837 in eine psychiatrische Anstalt. Dort verbringt er vier Jahre.
Im Sommer 1841 flieht er und wandert in einem Gewaltmarsch über 100 Meilen in vier Tagen von London nach Northborough zu seiner Familie. Er kommt völlig zerschlagen, geschunden und halbverhungert an und erkennt kaum seine Ehefrau.
Diesen Marsch beschreibt er in dem Essay, das dem
vorliegenden Buch den Titel gegeben hat.
Auf gerade zehn Seiten gibt er einen Bericht, der schonungs-los Kälte, Hunger, Erschöpfung, Orientierungslosigkeit, blutig gelaufene Füße wiedergibt.
Dieser kompakte Text fängt ein, was nackte Verzweiflung bedeutet, wie sie sich anfühlt. Und, auch wenn das kaum vorstellbar ist, selbst in diesem Bericht, verliert Clare nicht seinen Humor.
Er hat auf seinem Marsch in einer kleinen Hütte geschlafen:
"Ich erwachte & Tageslicht schaute von allen seiten herein & da ich fürchtete meine garnison könnte im sturm eingenommen & ich selbst zum gefangenen werden verliess ich mein obdach auf dem gleichen wege auf dem ich hinein gelangt war..."
Clare hält nichts von einengenden Rechtschreibregeln und Grammatikvorschriften. Er schreibt nach Gehör.
Esther Kinsky hat in ihrer Übersetzung diese Eigenart beibehalten und sich an der Sprache des ausgehenden
18. Jahrhunderts orientiert.
Damit hat sie den Zauber von Clares Sprache sehr gut ins Deutsche transformiert und lässt den Leser teilhaben an einem ganz besonderen Abenteuer.
In den "Autobiographischen Fragmenten", die den größten Raum des Buches einnehmen, beschreibt Clare sein Leben von frühester Kindheit an bis zu seinem dritten London-Besuch. Die Erinnerungen enden mit dem Begräbnis Lord Byrons im Mai 1823.
Sehr genau und detailliert sind seine Erinnerungen.
Er schreibt über Freundschaften und deren Verlust, über erste Lektüre und frühe Versuche, seine Gedanken und Gefühle in Gedichte zu gießen. Die Faszination, die die Zigeuner auf ihn ausüben, hätte ihn beinahe dazu bewogen, sich ihnen anzuschließen. Statt dessen verbringt er einige Zeit beim Militär. Die Ausübung diverser Berufe an verschiedenen Orten zeigen ihm etwas von der kleinen, ländlichen Welt, seine Besuche in London bringen ihn mit der großen in Berührung. Auch über sein Verliebtsein in mehr als ein schönes Mädchen schreibt er ganz frei.
Seine Einladungen in Herrenhäuser (wo er häufig mit den Dienstboten zusammen essen muss) werden thematisiert, ungebetene Besucher, die ihn begaffen wollen, sowie Neid und Missgunst, als er Erfolg hat.
Sein Fazit nach dem dritten und letzten Londonaufenthalt lautet: "Vertraue nicht auf menschen denn sie werden dich enttäuschen"
In den Erinnerungen an die Kindheit hat er geschrieben:
"die stille liebe zur gegenwart der natur wurde mir so zum eignen wesen dass mir nie wohl war ausser wenn ich drausen auf dem felde war & meine sabat tage & musse zeiten mit den schäfern & hüte jungen verbrachte"
Diese tiefe Liebe und Verbundenheit mit der Natur spiegelt sich in Clares Schriften. In seinen Gedichten, aber auch in den Erinnerungen, in denen er die Natur immer wieder der menschlichen Natur, Kultur und Lebensweise gegenüber stellt.
"Allein poesie ist die existens der kindheit wahre schlichte seelen rührende poesie das lachen & die freude der poesie & nicht ihre philosophie das mannesalter indes hat nichts von poesie sondern nur ein spiegelbild & die errinrung an das gewesene nichts sonst"
Ein halbes Jahr nach seiner Reise aus Essex nach Hause
wird Clare ins Northampton General Lunatic Asylum eingewiesen. Dort bleibt er bis zu seinem Tod im Jahr 1864,
also ganze dreiundzwanzig Jahre.
Seit seiner Wiederentdeckung in den zwanziger Jahren gilt er als ein bedeutender Chronist des englischen Landlebens.
Nun kann man ihn endlich auch in deutscher Sprache lesen.
John Clare: Reise aus Essex und andere Selbstzeugnisse
Übersetzt von Esther Kinsky
Matthes & Seitz Verlag, 2017, 176 Seiten
(Die Gedichtbände Poems Descriptire of Rural Life and Scenery erschien 1820, The Village Minstrel and other Poems 1821. Die Übersetzung der autobiographischen Fragmente basiert auf einer Ausgabe aus dem Jahr 1996)