Anton Cechov - Sommergeschichten
Die erste Geschichte dieses Bandes mit Erzählungen hauptsächlich aus den 1880er Jahren ist überaus vergnüglich zu lesen. Sie ist ein fulminanter Auftakt, gleicht einem Bühnenstück für zwei Personen und entführt sofort in die Literatur-Welt Anton Cechovs.
"Einer von vielen" ist sie betitelt, sie handelt von einem klagenden Ehe-mann, der seinen Freund bittet, ihm einen Revolver zu leihen.
Warum? Er ist völlig erschöpft von all den Erledigungen,
die ihm aufgetragen werden. Nicht nur seine Frau, auch Nachbarn, Freunde, Bekannte, erteilen ihm täglich einen Auftrag, was er alles tun und besorgen soll, wenn er vom Landhaus in die Stadt fährt. Und abends soll er noch tanzen gehen, sich amüsieren - es gibt nichts anstrengenderes als eine Sommerfrische auf dem Land!
"Du bist Ehemann, und das Wort `Ehemann´ bedeutet, in die Sprache der Damenwelt übersetzt: Waschlappen, Idiot und stummes Tier, auf dem man uneingeschränkt reiten und Lasten befördern darf, ohne befürchten zu müssen, daß der Tierschutz einschreitet."
Dieser wunderbar ironische Ton, der nicht nur diese Geschichte trägt, beflügelt die Erzählungen, deren Figuren immer sehr mit dem Leben und ihrem Schicksal zu kämpfen haben.
Da ist der Gast einer kleinen Pension, die von einer gar zu liebenswürdigen jungen Dame geleitet wird. Sie kümmert sich umfassend um das Wohl des Herrn - erst als er die Rechnung in den Händen hält wird ihm klar, wo er seine Ferien verbracht hat.
Oder ein Ehemann, der seine Frau vermietet, ein anderer,
der sie sogar verkauft. Schurken sind sie allesamt, die Frauen werden jedoch nicht als Unschuldslämmchen dargestellt.
Sie sind ebenso leidenschaftlich, berechnend, schwach oder stark, oder sie sind ganz anders als ein Betrachter bzw. Bewunderer sich dies ausgemalt hat.
Cechovs Kunst, die Menschen darzustellen und dabei auf moralische Wertungen zu verzichten, entfaltet er in seinem gesamten Werk. Die Handlung steht bei ihm nicht im Vordergrund, er theoretisiert nicht über eine Eigenschaft oder Denkweise, er stellt sie dar.
Dies gelingt ihm in jeder einzelnen Geschichte (in diesem Band sind 24 versammelt), man lernt die unglaublichsten Menschen kennen.
Ganz besonders angetan haben es mir die Erzählungen,
die den Tieren gewidmet sind. Sie stehen so charmant für bestimmte Typen von Menschen, hier ist große Freude garantiert.
"Die Fischerei" trägt der russischen Leidenschaft, wann immer möglich zu angeln, Rechnung.
Zuerst die allgemeinen Grundsätze: "Fische fängt man in Ozeanen, Meeren, Seen ... Anmerkung: Den größten Fisch fängt man in Fischgeschäften."
Unter der Rubrik "Köder" heißt es in der Anmerkung, die jeden Paragraphen (wegen des wissenschaftlichen Anstrichs, wie der Autor bemerkt) beschließt:
"Hübsche Sommerfrischlerinnen, die mit der Angel am Ufer sitzen, nur um die Aufmerksamkeit eines Bräutigams zu erringen, können ebenfalls ohne Köder angeln. Weniger ansehnliche Sommerfrischlerinnen dagegen müssen Köder einsetzen: ein- bis zweihundert Rubel oder ähnliches..."
Er listet verschiedene Fischarten auf, beschreibt ihre Besonderheiten. Die letze Eintragung lautet:
"k) Die Brasse. Unterhält Gasthäuser an der Großen Straße und arbeitet im Akkord. Erweckt den Anschein, als ernähre sie sich von Fastenspeise. Hat sie einen Fisch verzehrt, wischt sie sich schnell die Lippen ab, damit die `Herrschaft´ nichts merkt..."
Doch er erzählt auch von einem Mann, der Spenden sammelt. Das "abgebrannte Gotteshaus" soll wieder aufgebaut werden. Ein notorischer Dieb schließt sich ihm an, es kommt, wie es kommen muss. Und doch nicht ganz...
Die Menschen haben ihre liebe Not. Ein jeder leidet und kämpft auf seine Weise.
Cechov faltet die Lebensgeschichten auf, er entwirft bunte Tableaus, die Personen sind unglaublich lebendig,
Auch wenn er vom Verfall der Sitten erzählt begibt er sich nicht ins Reich der Hoffnungslosigkeit.
Wussten Sie übrigens, woher der Hang der Dichter zur Schwermut kommt?
Ein Karpfen, der in Liebe zu einer Badenden entbrannt war, konnte sie nicht für sich gewinnen. Schon in Wahnsinn versunken, küsste er einen schwimmenden Dichter und "infizierte" diesen mit seinem Pessimismus.
"Nichtsahnend entstieg der Dichter dem Wasser und ging, mit wildem Gelächter, nach Hause. Einige Tage später reiste er nach Petersburg: dort, in den Redaktionen, infizierte er alle Dichter mit seinem Pessismismus, und seit dieser Zeit schreiben unsere Dichter düstere, niedergeschlagene Gedichte."
Ein Glück, dass Anton Cechov Theaterstücke, Erzählungen und Kurzgeschichten schrieb und nicht düstere Gedichte.
Ganz großes Lesevergnügen, nicht nur im Sommer!
Auch dank der vortrefflichen Übersetzung von Peter Urban.
Anton Cechov: Sommergeschichten
Übersetzt von Peter Urban
Ausgewählt von Christine Stemmermann
Diogenes Verlag, 2020, 272 Seiten
(Originalausgaben ca. 1880-1895)