Alsdair Campbell - Der Junge aus Ness

Colin Murray, der Protagonist, wächst

in den 1950er-Jahren auf der Insel

Lewis auf den Äußeren Hebriden auf.

Am Ende der Welt sozusagen.

Er lebt mit seinem älteren Bruder Alan, dem jüngeren Bruder John und seiner Schwester Annie, mit Mutter und Vater in dem kleinen Dorf Ness.

 

 

Der Roman setzt ein mit einer Szene, in der Colin mit einer Milchflasche unter dem Arm nach Hause läuft. Er kommt an zwei alten Männern vorbei, die vor dem Haus sitzen und ihn ein bisschen ärgern. Er rennt weiter an diversen anderen Gebäuden vorbei, von denen der Erzähler berichtet, wem diese Häuser gehören und wer jetzt darin wohnt.

 

Dies ist der Auftakt zu einer Vielfalt von Namen, Beinamen und Verwandtschaftsbezeichnungen, über die man nur sehr schwer den Überblick behalten kann. Es ist für die Menschen wichtig und wird im ganzen Buch immer wieder erörtert, wer mit wem verheiratet ist, wer Cousin oder Cousine, manchmal wissen es die Leute auch schon gar nicht mehr - ist das nun eine Cousine 2. oder 3. Grades? 

 

Das Dorf hat wie das ganze Land nur wenige Einwohner, vielleicht ist es deshalb so wichtig, jeden Einzelnen einordnen zu können, auf ihn zurückgreifen zu können oder sich einfach zu versichern, dass alle noch da sind?

 

Das Geflecht aus Verwandtschaft ist der Hintergrund dieses Romans, es erscheint wie die Landschaft selbst: ewig, tragend und sowohl bestimmend als auch gleichgültig.

Denn obwohl die Verwandtschaft so wichtig ist, wird hingenommen, dass Mitglieder der Gemeinschaft verloren gehen. Man ist es gewohnt, dass die Menschen auswandern (müssen). Die, die zurückbleiben, ertragen das stoisch.

 

Der kleine Colin läuft also mit der Milch nach Hause.

Er bringt sie seinem Vater, der lungenkrank ist und niemals sein Bett verlässt. Dafür schämt sich Colin sehr.

Er hat einen Vater, der "zu nichts nutze" ist.

Die Mutter sorgt für die Familie, und sowohl Alan als später auch Colin werden nach der Grundschule die "Große Schule in Stornoway" besuchen. Beide Brüder studieren anschließend an der Universität, Alan Volkswirtschaftslehre, Colin entscheidet sich für Englisch, Geschichte und Moralphilosophie.

 

Doch das ist weit vorausgegriffen. Bevor Colin das Elternhaus verlässt und im Internat der Schule lebt, ist er tief im Dorfleben verankert. Er erlebt mit, wie geschlachtet wird - die Beschreibung einer Hammelschlachtung ist eine der besten Passagen in diesem Buch. Hier werden Tätigkeiten, Werkzeuge und Gerät beschrieben, genauso das Verhältnis der Menschen zu ihren Tieren beleuchtet, hier erhält der Leser einen wunderbaren Einblick in die lokale Kultur.

 

Colin verbringt viele Abende in der Gemeinschaft, an denen gesungen, Gedichte rezitiert und vor allem Geschichten erzählt werden. 

Ob wahr oder Legende, ob von Nachbarn oder Geistern, spielt eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dass die Geschichten den Lebens-Geist der Menschen und des Landes widerspiegeln.  Die Geschichten bilden die geistige Heimat der Menschen, deren Muttersprache das Gälische ist. 

 

In diese Welt wirft der Leser einen Blick. Alasdair Campbell beschreibt das Dorfleben keineswegs nostalgisch, sondern realistisch, die dunklen Seiten werden nicht ausgeklammert.

 

Nicht nur die Kinder gehen nicht immer freundschaftlich miteinander um, vor allem im Internat leiden die Schüler unter der Brutalität der Lehrer und Aufseher.

Einmal fährt Colin per Anhalter. Der Fahrer erzählt ganz ungeniert und eher stolz als reuemütig von einer Vergewaltigung, an der er beteiligt war. Er hat mitgeholfen aus einem überheblichen Mädchen eines zu machen, das sich fügt und beugt. Vergewaltigung als Erziehungsmaßnahme.

 

Nach Beendigung der Schule in Ness geht Colin zur Großen Schule nach Stornoway, nach dem Abitur nach Aberdeen an die Universität. Mit jedem Schritt, den er weiter weg von zu Hause macht, verliert er an Halt.

Er hatte nie so ganz dazugehört im Dorf, aber nachdem er es verlassen hatte, gehört er gar nicht mehr dazu. Nirgends.

 

Sein Bruder Alan studiert erfolgreich, spielt im Fußballteam der Uni, schaut auf den kleinen Bruder herab wie eh und je.

Er ist ihm keine Stütze. Colin vertauscht den Hörsaal immer häufiger mit einer Bar oder einem Pub.

 

Das Kapitel, in dem Colin auf die neue Schule kommt ist mit "Wachstumsschmerzen " überschrieben. Dieses ist, wie der ganze Roman bisher, aus der Sicht eines Erzählers geschrieben. Später, als Colin in Aberdeen lebt, ändert sich die Perspektive. Colin schreibt Briefe an seinen jüngeren Bruder und berichtet als ein Ich-Erzähler von seinem Leben. Über neun Monate hinweg schreibt er diese Briefe, das Kapitel trägt die Überschrift "Der Studentenkalender."

 

Colin berichtet von der Stadt, vom Fußball, er spricht über den nie endenden Diskurs Englisch oder Gälisch, welche Sprache spricht wer wann wo? Er schreibt von Begegnungen mit Mädchen, von seinem Versuch, ein Theaterstück zu schreiben, seiner Lektüre und den ewigen Geldnöten,

er reflektiert Geschichten und Erinnerungen von und an

zu Hause, er erzählt von Prostituierten, Festen und immer immer wieder vom Alkohol.

 

Fügt der Autor seinen Protagonisten bis zu einem bestimmten Punkt seines Lebens in das Gemälde der Herkunft ein, so betont er mit der Ich-Perspektive Colins Verlorenheit. Zwar nimmt Colin die verinnerlichte Tätigkeit des Geschichtenerzählens, um sich seiner selbst und seiner Kultur und Wurzeln zu versichern, auf, aber Colin hat sich schon zu weit von allem entfernt. Er ist zu einer Insel geworden.

 

Der Roman endet mit einem Traum seines "Tantchen Annie".

Sie sieht Colin am Hafen in Southampton.

Dorthin hat sie ihm am Tag zuvor einen Brief geschickt. Jemand aus dem Dorf hatte Colin dort gesehen und berichtet, es ginge ihm gut. 

In diesem Brief schreibt die sechzigjährige Frau mehrmals "komm heim", "komm nach Hause". Außerdem "komm bitte nach Hause gutes Essen und frische Luft und keiner stört dich alles vergeben und vergessen wir haben letzte Woche Blutwürste gemacht (maragan) ich hab an dich gedacht eine ohne Zwiebeln hängt auch noch ein Anzug von Alan im Schrank den braucht er nicht mehr..."

 

Annie möchte ihn zurückholen in die Gemeinschaft.

Aber sie weiß nicht, ob ihr Brief den Neffen erreichen wird.

 

 

Alasdair Campbell, geboren 1941, wuchs wie sein Held Colin in Ness auf, besuchte die Schule in Stornoway und studierte in Aberdeen. Er teilt die Herkunft und die Geschichten der Kindheit mit seinem Protagonisten, sie teilen die Sprache.

Campbell schrieb diverse Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichte auf Gälisch, den Roman "Der Junge aus Ness" (sowie zwei andere) schrieb er auf Englisch.

Doch in welcher Sprache auch immer verfasst, er ist tief verwurzelt in der Kultur der Insel mit allen Aspekten.

Landschaft und Klima, Architektur und Einrichtung der Häuser, Landwirtschaft, harte Arbeit, Fischerei, Kriege, Emigration, persönliche Beziehungen, die Wichtigkeit der Poesie und des Singens - sie alle haben ihren Platz in dieser Geschichte, deren Figuren um Identität ringen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alasdair Campbell: Der Junge aus Ness

Übersetzt von Lorenz Oehler

Folio Verlag, TransferBibliothek, 2018, 288 Seiten

(Originalausgabe 2000)