Máirtín Ó Cadhain - Die Asche des Tages
Ein Mann erfährt am Telefon vom Tod seiner Frau. Nicht unerwartet kommt dieser, sie war sehr krank gewesen.
Er verlässt sein Büro in dem Wissen, nun ganz schnell alles für die Beerdigung regeln zu müssen. Es ist Samstag, er sollte sich beeilen. Doch N., der Protagonist dieser Geschichte, verliert sich vollständig in den kommenden 36 Stunden.
Máirtín Ó Cadhain gilt als der irischsprachige Joyce und ist seinerseits ein Mythos. Geboren wird er 1906, als eines von 13 Kindern eines Bauernehepaares. Er wird Lehrer, später Übersetzer, er engagiert sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung und ist politisch aktiv. Für seine Überzeugungen sitzt er lange Zeit in einem Internierungslager.
Er schreibt Kurzgeschichten und Romane, wird Inhaber des Irisch-Lehrstuhls im Trinity College und hört ein Leben lang nicht auf, sich für die Irische Sprache und Kultur einzu-setzen. Cadhain stirbt 1970.
"Die Asche des Tages" erscheint im selben Jahr.
Cadhain lässt einen Erzähler auf die Geschehnisse blicken.
Dieser berichtet, was N. tut, was ihm durch den Kopf geht.
Er notiert die Gespräche, die N. führt, seine Ängste und Sehnsüchte, seine versponnenen Gedanken und die wider-sprüchlichen Gefühle.
Es entwickelt sich ein starker Sog, der die LeserInnen immer mehr in die Wirklichkeit Ns. hineinzieht.
Dieser bewegt sich unablässig an die Beerdigung und all den damit verbundenen Aspekten denkend durch die Stadt.
Wie kann er einen günstigen Bestatter auftreiben?
Wo einen Priester finden, der nicht viel Geld verlangt?
Was für einen Sarg soll er auswählen, einen billigen natürlich?
Wie werden sich die bösen Schwägerinnen ihm gegenüber verhalten, wenn er erst einmal zu Hause ist?
Diese Schwestern seiner Frau sind wie Gralshüterinnen:
sie bewachen ihre Schwester, warten gierig auf den Leichen-schmaus, sind nur auf das Geld Ns. aus, greifen nach seinem Leben.
Sie sind mit ein Grund, dass er nicht nach Haus möchte.
Die LeserInnen verfolgen über den gesamten Roman Ns. Gänge durch die Stadt.
Er geht in einen Trödelladen, wo ihm die Brieftasche gestohlen wird. Nun ist er fast mittellos.
Er geht in eine Kirche, spricht mit dem Priester.
Er trifft fremde Männer und Frauen, manche erscheinen ihm als Wohltäter und Ratgeber.
Er hält eine berufliche Verabredung ein und fährt mit einem Drehteam aufs Land, um ein Interview zu führen (die Arbeit fürs Radio ist eine Nebenbeschäftigung).
Die Nacht verbringt er bei der Assistentin des Regisseurs, er wacht verkatert und beschämt auf.
Und er geht immer noch nicht nach Hause.
Den letzten vermeintlichen Wohltäter, Cadhain nennt sie auch die "Guten Menschen", trifft er am Hafen. Ein Seemann, der kräftig dem Alkohol zuspricht und der ihm von Amerika vorschwärmt, dort gibt es alles gratis, ob N. nicht mit-kommen möchte nach Boston??
"Eines nach dem anderen ließ er die Geschehnisse des Tages Revue passieren. Es gelang ihm nicht, sich davon zu überzeugen, dass es nicht ganz und gar seine eigene Schuld gewesen wäre, dass er ausgeraubt worden war, und natürlich hatte sich alles andere aus diesem Diebstahl ergeben.
Fast jeder, dem er davon erzählt hatte, war davon überzeugt gewesen, entweder ganz offen oder klammheimlich im Hinterstübchen, dass er den Dieb irgendwie dazu aufgefordert hatte, ihn auszurauben. Aber er hatte das Geld doch bei sich tragen müssen. Das Haus war der unsicherste Ort, wo er es hätte aufbewahren können..."
In dieser Art strömen Ns. Gedanken. Er verstrickt und versteigt sich immer weiter, verliert auch vollkommen seine Einschätzungsfähigkeit, was andere Menschen und seine eigene Situation angeht.
Auffällig ist, dass er ganz und gar vor der Trauer flieht.
Kein Gedanke an seine Frau, kein Gefühl von verlorener Liebe. Er schiebt dies alles so weit wie möglich von sich weg, vielleicht ein Grund dafür, dass er immer weiter aus der Realität getrieben wird.
Er denkt an sie als einen "Leichnam", dieses Wort ist auf einer einzigen Seite genau zehn Mal zu lesen.
Einmal bezeichnet er diesen sogar als "Rohmaterial".
"Wenn überhaupt etwas sicher war, dann der Leichnam, dieser Leichnam, dieser Körper, der der Ursprung aller Sorgen und allen Kopfzerbrechens war. Es war kaum zu glauben, dass etwas so Schweres, Bleiernes, so Gefühl- und Atemloses wie ein Leichnam einen solchen Wirbelwind aus Sorgen auslösen, die Lebenden in eine solche Falle der Verantwortung hineinmanövrieren konnte. ..."
Am Ende steht er am Meer, blickt auf das Wasser und findet noch einen "Lebensfunken" in sich.
"Er hob die Blicke gen Westen, streifte den winzigen Sprenkel schwelenden Sonnenlichts am Horizont, über der Asche des endlich vergangenen Tages..."
Cadhain versteht es meisterhaft, die Verzweiflung, den
zunehmenden Realitätsverlust, die Suche, den Strudel der Gedanken, die Sehnsucht nach Flucht, auch aus der Verant-wortung, das Greifen nach jedem Strohhalm Ns. dar zu stellen. Eingebettet in die Besonderheiten Irlands, das nicht nur Kulisse ist. Und zu denen auch die Nähe von Tragik und Komik gehört.
Máirtín Ó Cadhain: Die Asche des Tages
Übersetzt von Gabriele Haefs
Alfred Kröner Verlag, 2020, 160 Seiten
(Originalausgabe 1970)
Wenn Sie mehr über Máirtín Ó Cadhain lesen möchten,
hier findet sich die Besprechung des Romans "Grabgeflüster"