Máirtín Ó Cadhain - Der Schlüssel
Eine Novelle, begonnen 1952, erschienen 1967 - sie könnte aktueller nicht sein.
Sie spielt in Irland, in Wirklichkeit spielt sie jedoch im bürokratischen Überall oder Absurdistan. Sie ist eine außergewöhn-liche Lektüre, so absurd und surreal, dass es manchmal schmerzt.
Doch der Sog ist stark, Cadhain zieht die LeserInnen in die Geschichte hinein.
Der Autor gilt als der irischsprachige Joyce und ist seinerseits ein Mythos. Geboren wird er 1906, als eines von 13 Kindern eines Bauernehepaares. Er wird Lehrer, später Übersetzer, er engagiert sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung und ist politisch aktiv. Für seine Über-zeugungen sitzt er lange Zeit in einem Internierungslager.
Er schreibt Kurzgeschichten und Romane, wird Inhaber des Irisch-Lehrstuhls im Trinity College und hört ein Leben lang nicht auf, sich für die Irische Sprache und Kultur einzusetzen. Cadhain stirbt im Jahr 1970.
Die Novelle beginnt mit dem Satz "J. war Papierbeauftragter." Was bitte? "Jeder ehrliche Mensch wird zugeben, dass dieses die verantwortungsvollste und schwierigste Stellung im gesamten Öffentlichen Dienst ist. Denn der Öffentliche Dienst ist Papier, jeden Formats, jeder Form und jeder Fabrikation, jeder Farbe und jeder Qualität."
Es klingt wie ein Lamento, es geht so weiter. Es fallen Begriffe wie "geheiligte Aktennotizen" oder "Gegenwelt aus Akten", Aussagen wie "Wer hat den Öffentlichen Dienst erschaffen? Gott."
J., der Papierbeauftragte, ist ein kleines Licht am Ende der Befehlskette, fühlt sich aber wichtig. Manchmal nicht ganz den Aufgaben gewachsen, er kam ja auch durch Beziehungen zu dieser Stelle.
Verheiratet ist er mit einer Frau, die er durchgängig "die Alte" nennt. Sie hat ein Hüftleiden, das sie griesgrämig und böse macht.
Und dann stürzt sein Leben auf einmal in sich zusammen: "Die Tür war von außen verschlossen, sein VORGESETZTER, was immer in Großbuchstaben geschrieben wurde, und immer, wenn J. dieses Wort aussprach, spürte er, wie es seinen Untergebenenmund ausfüllte - sein VORGESETZTER war seit der Mittagspause in Urlaub auf der Isle of Man, und J. war in einem Zimmer ohne einen anderen Ausgang, ohne Fenster oder Schornstein, ohne Oberlicht oder Durchreiche oder Belüftungsschacht eingesperrt, ein Wurm in einem Papiermausoleum ... Aber wo war der Schlüssel?"
Der ist nicht auffindbar.
J. muss sich bemerkbar machen. Er braucht Wasser, etwas Nahrung, eine Toilette. All das hat er nicht zur Verfügung.
Er hat einen Schlüssel in seinem Büro, doch mit diesem lässt sich die von außen verschlossene Tür nicht öffnen, er bricht ab.
Es tauchen immer mehr Menschen vor der Bürotür auf, angefangen mit der Putzfrau. Es steigert sich über Beamte diverser Ebenen, Kontrolleure, Bürovorsteher, Vertreter des Verwaltungsamtes, Abgeordnete verschiedener Parteien,
die alle ihre Statements abgeben. J. gibt ein Telefoninterview, es erscheint eine Sonderausgabe der Zeitung.
Er hört seine "Alte" schreien und die Beamten beschimpfen, der Pfarrer erscheint, er kann so wenig für ihn tun wie der Erzbischof, der Gewerkschaftssekretär oder der Minister.
Derweil leckt J. in seinem Büro die Stockflecken von der Wand, in der Hoffnung, daraus auch nur einen Tropfen Flüssigkeit zu ziehen. Seine Lage wird allmählich lebens-bedrohlich.
Die Novelle besteht aus den Handlungen, die vor der Tür stattfinden, und den Gedanken des Papierbeauftragten.
Diesem wird das Heft des Handelns komplett aus der Hand genommen, er wird zu einem `Etwas´, einem Fall.
Wie in Franz Kafkas Roman "Der Prozess" aus dem Jahr 1925 gerät der Protagonist in Mühlen, aus denen es kein Entrinnen gibt.
Sie ist eine Satire in Reinform. Das Lachen bleibt einem freilich im Hals stecken, dafür sorgt der ausgefeilte Stil Cadhains. Der Erzähler nutzt den stream of consciousness so
raffiniert im Wechsel mit Beschreibungen, dass zu spüren ist, wie dünn die Büroluft, die bürokratische Luft um den Papier-beauftragten wird, der ein menschliches Wesen ist.
Mit einem Recht auf Leben.
Máirtín Ó Cadhain: Der Schlüssel
Aus dem Gälischen übersetzt von Gabriele Haefs
Mit Anmerkungen und Zeittafel
Kröner Verlag, 2016, 100 Seiten
(Originalausgabe 1967)