Thomas Brunnschweiler -

Das abenteuerliche Leben der Susanna Carolina Faesch

"Ich bin ebenfalls anders, dachte sie,

ich spüre das, seit ich in Biederthal war. Ich weiß nicht genau warum, aber es ist so. Ich bin schon immer anders gewesen, darum fühle ich mich zu diesen Menschen in der Prärie hingezogen. Uns verbindet unser Anderssein. Ja, ich glaube, das ist es."

 

 

Thomas Brunnschweiler fiktionalisiert in diesem Buch die außerordentliche Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau.

Geboren wurde sie 1844 als drittes Kind des Ehepaares Barbara und Lucas Faesch in Kleinbasel. Die Ehe der Eltern war zu dieser Zeit schon unglücklich, die Situation sollte nicht besser werden. Die Bekanntschaft mit Karl Valentiny, aus der eine Liebschaft wird, bewegt Barbara dazu, sich von ihrem Mann zu trennen. "Nach achtzehn Jahren Ehe verließ sie im Mai Haus, Mann und die beiden älteren Kinder."

Ein ungewöhnlicher Schritt für die damalige Zeit. Barbara lässt sich im Elsass nieder, arbeitet als Köchin auf Schloss Biederthal. Caroline ist knapp fünf. Sie ist acht, als sie zusammen mit ihrer Mutter in New York eintrifft, dort bereits erwartet von Karl Valentiny. Die beiden heiraten,

Karl adoptiert Carolina.

 

Nun ist sie also in der neuen Welt. Sie lernt Englisch, kann bald die Schule besuchen. Die Familie zieht mehrmals um, die Wohnungen werden größer und besser.

 

Caroline kommt hier nicht zum ersten Mal in Berührung mit den Indianern und der Indianerfrage. Sie kennt sie aus einem Buch, ihrem "Schinz", den Karl ihr noch in Biederthal geschenkt hatte. Karl ist als Revolutionär von 1848 für die Abschaffung der Sklaverei, die Indianer hält er jedoch für "faul und unberechenbar". Caroline liest sich intensiv in das Thema ein, macht sich ihr eigenes Bild, ist mehr und mehr fasziniert von der Kultur der Ureinwohner des Kontinents.

 

Sie wird nach einer Schneiderlehre in die Ehe mit einem Arzt gedrängt, diese hält nicht lange. Von einem Liebhaber bekommt die mutige Frau einen Sohn, ihn hält sie geheim. Sie lässt sich scheiden und lebt mit Grete zusammen. Die beiden Frauen ziehen das Kind nicht nur gemeinsam auf, sie verbindet eine tiefe Liebe zueinander, eine Beziehung, in der beide auch ihre erotische Erfüllung finden. Beide verdienen ihr eigenes Geld, leben unabhängig von Männern oder Familie.

 

Als Christie, Carolinas Sohn, mit der Schule fertig ist, wagt sie einen weiteren bedeutenden Schritt: sie zieht nach Dakota in das Lager der Hunkpapa, wird Sekretärin des legendären Sitting Bull. Der Kontakt war schon lange zuvor hergestellt worden, zunächst war sie Beraterin und Botin zwischen den Indianern und den Weißen gewesen. 

 

Thomas Brunnschweiler beschreibt alle Lebensstationen Carolinas ausführlich. So lernt man nicht nur das Leben und die Gedanken der Figuren, sondern auch die Politik der Schweiz kennen, die Bedingungen der Scheidung ihrer Eltern, denen der Auswanderung, der Überfahrt in die neue Welt. Das Buch ist nebst der Lebensbeschreibung seiner Heldin eine Sozialstudie der jeweiligen Aufenthaltsorte Carolinas. 

 

Sowie sie mit den Indianern (sie selbst hat sie niemals anders genannt, Native Americans ist eine Bezeichnung, die später erst aufkam) in Kontakt kommt, taucht man tief in deren Geschichte ein, die vor allem eine der Verdrängung, der Landwegnahme, des Krieges und Niedergangs ist.

 

Carolina versteht sich stets als Mittlerin und als Mahnerin. Sie rät ab von Kämpfen, sie weiß, dass die Weißen mit all ihren Waffen die Stärkeren sind. Und sie weiß, dass deren Willen, sich das Land zu nehmen, stärker ist als alles andere.

 

Manchmal meint sie, den Indianern anzugehören, niemand kennt Sitting Bull so gut wie sie. Aber ist das möglich?

Die Denkweise der Indianer ist anders als die der Weißen:

 

"Alles war eins und alles war gegenwärtig. ... Ich weiß das, dachte Caroline, ich weiß das mit dem Kopf, aber nicht wirklich mit dem Herzen. Wie könnte ich auch, dachte sie, ich bin in einer Welt geboren, die zerfallen ist in Natur und Kultur, Gut und Böse, Sittsamkeit und Laster, Sache und Wort. Die Hunkpapa sind die Anderen. Und das Andere ist einfach anders. Ich muss es einfach stehen lassen."

 

Carolina verliert fast alles in ihrem Leben, auch ihre Notizen und Aufzeichnungen. Einiges davon konnte sie rekonstru-ieren, ein kleines Tagebuch retten - auf diese schriftlichen Zeugnisse bezieht sich Thomas Brunnschweiler, der sie nebst seinen eigenen Recherchen benutzt, um das Leben der Carolina zu beleuchten.

 

"Ich habe verschiedene Schwellen überschreiten müssen, ging es ihr durch den Kopf, dies spiegelt sich in meinen sechs Namen: Susanna Carolina Faesch, Caroline Valentiny, Schlatter, Stevenson, Caroline Weldon und Tokaheya máni win."

 

Den Indianernamen bekam sie von Sitting Bull. Er bedeutet, die Frau, die voran geht. Er hatte ihr sogar einen Heirats-antrag gemacht, diesen empfand sie zunächst als Affront.

Sollte sie "eine Trophäe dieses alten Mannes" werden?

 

"Was bildete sich Tatánka Íyotake ein? Sie entstammte einer alten, wohlhabenden Familie, die viele große Männer hervorgebracht hatte. Und sie selbst war ebenfalls eine Pionierin, die es geistig mit den meisten Männern aufnehmen konnte. ... Ich glaube ich bin ebenso bedeutend wie Sitting Bull und meine Sippschaft war sogar noch bedeutender."

 

Kursiv gedruckte Stellen entstammen den Schriften Carolinas, sind also Originalzeugnisse. 

Thomas Brunnschweiler, der sehr genau recherchiert hat und von seiner Heldin sehr fasziniert ist, legt aber auch einen gesunden Selbstzweifel in sie, der sie um so sympathischer macht.

So schreibt er über ihr Denken einige Jahre später:

 

"Plötzlich schämte sie sich jenes kurzen Satzes, ihre Sippe

sei bedeutender als Sitting Bull. Es war offensichtlich der

alte Basler Familiendünkel, der in dieser Bemerkung durch-gedrückt hatte. Die Familie Faesch wird wohl in ein paar Hundert Jahren nur noch in einigen Geschichtsbüchern erwähnt werden, dachte sie, aber Sitting Bull wird als Legende weiterleben; ob man dann noch über mich etwas weiß, ist höchst fraglich."

 

Die Zwischen- oder Grenzgängerin fragt sich, in welche Welt sie nun gehört. 

"Sie spürte ihre Nähe zu diesen Menschen. Sie spürte gleich-zeitig eine unendliche Ferne. ... War ihre emotionale Nähe nicht eine Illusion, hinter der sich tiefes Nichtverstehen verbarg?"

Ihr Resümee, als sie schon lange wieder in Brooklyn lebt,

ist sehr bedenkenswert:

"Plötzlich war ihr klar: Sie hatte ihn nie ganz verstanden.

Sie wollte immer alles, was er tat und sagte, deuten und in ihr eigenes Weltbild einpassen. Sie war eigentlich nicht besser als die Missionare und Missionarinnen. Sitting Bull blieb immer der ganz Andere und sie musste dieses Anderssein akzeptieren, ohne es zu verstehen."

 

So ist diese fiktive Lebensgeschichte vieles zugleich:

der Wunsch, eine mutige Frau der Vergessenheit zu ent-reißen. Die Geschichte der Native American aus einer Sicht, die um Gerechtigkeit bemüht ist, zu erzählen.

Und schließlich die Frage zu bedenken, wie weit es möglich ist, den Anderen, den, der aus einer anderen Kultur kommt, zu verstehen. Eine Frage, die bei jeder Berührung zweier Kulturen zu stellen ist und heute genau so wichtig ist wie zur Zeit der Caroline Weldon (diesen Namen gab sie sich selbst), die 1921 bei einem Brand ums Leben kam. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thomas Brunnschweiler: Die Zwischengängerin -

Das abenteuerliche Leben der Susanna Carolina Faesch

Münster Verlag, 2021, 312 Seiten