Helwig Brunner - Gummibärchenkampagne
Mehr als einhundert Minutennovellen versammelt dieses Büchlein - es ist ein toller Schmaus. Mit großem Vergnügen habe ich die kurzen, kompakten, bunten Leckereien verschlungen.
Im Unterschied zu dem kleinen Nasch-werk sind sie jedoch nicht süß, sondern hintergründig, manchmal bissig und von eher schwarzem Humor, sie werfen Fragen auf, sie stellen Fallen und stellen
die LeserInnen vor einen Spiegel.
Die Novellen reichen vom Zweizeiler bis maximal anderthalb Seiten. Eingeteilt ist das Buch in vier Kapitel, die jeweils einen Schwerpunkt legen: "Eigenbrötler", "Paare",
"Lesende, Schreibende", "Herden".
Jede Novelle hat eine Hauptperson, deren Namen manchmal schon verrät, in welche Gefilde der Autor sich begibt.
Was könnte ein Mann namens Severin anderes sein, als einer, der auf der Alm Erkenntnisse gewinnt?
Oder Pius, der sich fragt, "welcher Teufel da die Fäden in der Hand gehalten hatte."
Oder Boris, der Börsenmakler - doch das sind nur Spielereien am Rande, jede LeserIn mag mit den Namen der Helden etwas anderes verbinden.
Allen Novellen gemein ist, dass sie ein ganz alltägliches Phänomen als Ausgangspunkt nehmen. Ein Vertipper bei einer Textnachricht, die Vorbereitung auf ein Rendezvous,
die Begegnung mir einem sabbernden Hund im Park und dem folgenden Zusammenstoß mit seiner Halterin - Helwig Brunner macht aus jeder Begebenheit ein kleines Drama, das sich vor dem geistigen Auge der LeserInnen abspielt.
Der Ton ist sachlich bis nüchtern, gerade dies gibt den Geschichten ihren Dreh ins Absurde, Komische oder Tragikomische.
Schön ist auch, dass der Autor sich selbst und seinen Berufs-stand nicht ausnimmt. Das Kapitel "Lesende, Schreibende"
ist von Selbstironie geprägt, spricht sehr deutlich von den Eitelkeiten der Kunstschaffenden (oder dem, was sie dafür halten), davon, wie wichtig sie sich nehmen.
Als Beispiel und Leseprobe sei hier eine ganze Novelle eingefügt:
"Dichterlesung
Es war das altbekannte Leiden bei den gemeinschaftlichen Lesungsabenden des regionalen Dichtervereins: Je schlechter die Gedichte, desto länger geriet die Lesung tatsächlich oder zumindest in der Wahrnehmung des Publikums. Wie ein eigensinniger Fußballer, der sich nicht dazu entschließen kann, den Ball an einen günstiger positionierten Mitspieler abzugeben, schienen sich manche Vereinsmitglieder an ihren Auftritt zu klammern, als handle es sich dabei um jene Viertelstunde Berühmtheit, die angeblich jedem Menschen irgendwann in seinem Leben zusteht. "Wir müssen die Modalitäten ändern", meinte die Obfrau, selbst eine veritable Dichterin, bei der nächsten Vorstandssitzung. "Ich stelle mir das so vor: Wir werden umso weniger Honorar auszahlen,
je länger jemand liest. Pro Überschreitungsminute wird der Betrag halbiert, pro Unterschreitungsminute verdoppelt.
Das volle Honorar wird somit an jene ausbezahlt, die gar nicht lesen." In einer geheimen Abstimmung wurde der Vorschlag mit deutlicher Mehrheit angenommen.
So rezitierte bei der nächsten Dichterlesung eine unbeirrbare Schar stundenlang ihre Verse, während alle, die literarisch etwas auf sich hielten, an sich hielten und im Biergarten nebenan froh das redlich unverdiente Geld verzechten."
Die Situation eines nicht enden wollenden "Lesungsabends" kennt sicher jeder. Die Idee jedoch, das Nicht-Lesen zu honorieren ist mir neu. Helwig Brunner spricht deutlich aus, was er denkt, und verlässt doch nie die augenzwinkernde Ebene. Er fasst in eine sehr kurze Geschichte ein Phänomen und eine mögliche Lösung - sie ist eine charmante Variante des Gedankens `weniger ist mehr´.
Bei den "Eigenbrötlern" begegnet man traurigen, hilflosen, verschrobenen, kurzsichtigen, an Gewohnheiten hängenden Personen - und noch vielen anderen.
Die "Paare" beschränken sich nicht auf Ehe- oder Liebes-paare, es werden auch Novellen von Müttern oder Vätern
und ihren Kindern erzählt, kurze Begegnungen wie die zwischen einem Reisenden und der Schaffnerin beleuchtet oder die Begegnung Mensch und Tier - sicher ist eines: Helwig Brunner lässt nichts aus!
Auch nicht im Kapitel "Herden", das keineswegs von tierischen Ansammlungen spricht.
Das Buch ist allerbeste Unterhaltung - gerne wird dieses Wort mit `seicht´ assoziiert - das ist es garantiert nicht!
Helwig Brunner: Gummibärchenkampagne
Literaturverlag Droschl, 2020, 144 Seiten