Bernd Brunner - Das Buch der Nacht
Bernd Brunner nähert sich auf faszinierende und vielfältige Weise dem Phänomen der Nacht. Wie lebendig sie ist, wird den Lesenden bei der Lektüre von über dreißig Essays, die mit Sonnenuntergang beginnen und mit dem Sonnen-aufgang enden, deutlich. Das schön gestaltete Buch entführt in die Welt der Tiere und Pflanzen, der Menschen, Städte und sogar unter Wasser.
"Was geschieht nicht alles in der Nacht! Bleibt man wach, bringt die Dunkelheit die gewohnten Koordinaten der Wahrnehmung in Bewegung. Die Fesseln der Kontrolle lösen sich, die Vorstellungskraft wird freier, Geruchs- und Geschmackssinn werden geschärft, Geräusche, die tagsüber untergehen, werden besonders deutlich wahrgenommen. Auch das Gefühl für Zeit und Raum verändert sich. Mehr als sonst kann man sich als winzigen Teil des Universums begreifen."
Diese andere Welt der Nacht beleuchtet Bernd Brunner beobachtend.
Er beschreibt das Außen, wie sich die Farben und Schatten verändern, erzählt von schlafenden Pflanzen und leuchtenden Mondgärten, berichtet von den nächtlichen Aktivitäten im antiken Rom oder in den Großstädten der 1920er Jahre, von der Dunkelheit der Nacht in vorindustri-ellen Zeiten, vom Ansehen der Nachtwächter, den Versuchen, mittels Feuer, Fackeln und Laternen Licht ins Dunkel zu bringen. Er erzählt von der Mondforschung, von der Bedeutung der nächtlichen Stadt für Musik, Malerei, Fotografie und Film.
Und auch der Bedeutung für die Gesellschaft: es finden verbotene Treffen von Revolutionären oder Verfolgten statt, Umstürze werden geplant, Dichter wie Charles Dickens erforschen "bei den nächtlichen Streifzügen ... die Lebensbedingungen der unteren Gesellschaftsschichten".
"Im Verlauf dieser Nächte vervollkommnete ich meine Ausbildung als Dilettant auf dem Sachgebiet der Obdach-losigkeit", so Dickens in Night Walks von 1851.
Bernd Brunner begibt sich aber auch ins Innere der Träumer, Schläfer und Schlaflosen, der nächtlichen Vaganten und ihrer Vergnügungen, erzählt vom Los der Nachtarbeiter und dem modernen Versuch, den Tag-Nacht-Rhythmus vollends abzuschaffen. Schlaf erscheint in dieser Betrachtungsweise als Rebellion gegen die nie endende Geschäftigkeit.
Außerdem streut er kleine Kuriositäten ein, wie den Nacht-schwimmer Goethe, dem es gefällt, einsame Spaziergänger zu erschrecken. Oder das Angebot eines Lokalreporters an Neugierige, das Nachtleben Berlins kennenzulernen:
"Es kostet ein paar Pfennige, nicht der Rede wert. Die Führung dauert drei Stunden, geht durch Opiumhöhlen, Kokskeller, Nackttanzdielen. Wer Berlin betritt, darf sich diese modernen Sehenswürdigkeiten nicht entgehen lassen."
Was wäre ein Buch über die Nacht ohne Teufel, Kobolde, Nachtmahre, Hexen, Untote, Vampire und Irrlichter?
Sie beflügeln die Phantasie seit jeher, haben feste Plätze in Märchen, Sagen und Legenden.
Bernd Brunner zitiert Dichter, Künstler, Wissenschaftler.
In grün gedruckt leuchten diese Zitate aus dem Text, unterstreichen und verdeutlichen Brunners Aussagen,
treten mit ihnen in einen Dialog, erweitern das Spektrum.
So ist das Buch auch ein Streifzug durch die Geistes-geschichte der Jahrhunderte.
Ein schönes Gestaltungselement ist der farbige Rahmen, der die Texte umgibt. Er verdunkelt sich von hellgrau zu tiefem nachtblau, zum Sonnenaufgang hin wird er wieder grau.
Sehr schön ist auch der dunkelblaue Umschlag, auf dem Sterne glitzern und der Mond leuchtet.
Ein Anhang mit weiterführender Literatur zum Thema, sowie ein Verzeichnis der genannten oder zitierten Personen rundet das Buch ab. Die Gestaltung entstand im Rahmen eines Projektes des Studiengangs Buch- und Medienproduk-tion in Leipzig. Eine sehr gelungene Zusammenarbeit.
Der letzte Essay, "Wenn die Sonne aufgeht", endet mit den Worten:
"Hier endet der Parcours durch die Vorstellungen, die sich mit der Nacht verbinden, denn auf dieser Seite der Erdkugel ist der Tag gekommen. Aber auf der anderen Seite beginnt die Nacht."
Der Parcours ist ein so vielfältiger, anregender, man opfert diesem Buch gerne einige Stunden Schlaf.
Bernd Brunner: Das Buch der Nacht
Galiani Verlag, 2021, 192 Seiten