Sibylle Berg - GRM - Brainfuck

Das Großbritannien heute und in naher Zukunft ist der Schauplatz dieses Romans. Das Land, in dem der Kapitalismus erfunden und auf die Spitze getrieben wurde. Wo durch Privatisierungen fast aller Teile des öffentlichen Lebens das Sozialwesen abgeschafft wurde. 

Großbritannien als Labor für das,

was durch technischen Fortschritt überall auf der Welt passieren kann, teilweise schon passiert - ohne eine Revolution hervor zu rufen. Nicht einmal in den sogenannten Demokratien.

 

Die Helden des Romans sind vier Kinder: Don, Hannah, Karen und Peter. Sie sind noch keine zehn Jahre alt, als der Leser sie kennenlernt, sie kommen alle aus völlig desolaten Familien, sie kennen nichts als Armut und Gewalt, sie haben keine Vorstellung davon, was Geborgenheit oder Fürsorge ist. Das Geld kommt vom Sozialamt, es ist viel zu wenig,

die Nahrung holen sie in Essensausgaben, alles nötige

gibt es im Sozialkaufhaus.

 

Die Fabriken haben geschlossen, den stolzen Arbeiter gibt es nicht mehr. Algorithmen ersetzen Menschen.

Die Leute schlagen sich mit befristeten Jobs weit unter ihrer Ausbildung durch, wenn jemand arbeitet, dann die Frauen, die Männer haben vollständig aufgegeben.

Ihre Wut über ihr Leben, über das System, lassen sie an den Schwächeren aus und sie tun sich zusammen in den altbe-kannten Männerbünden: dies befördert den Aufstieg der Rechten. 

 

Die Frauen kämpfen, bis sie im Alkohol ertrinken oder an einer Erschöpfungsdepression leidend nicht mehr aus dem Bett kommen. Es sei denn, er, der davongelaufene Ehemann, steht plötzlich wieder vor der Tür und will bedient werden - da funktioniert der weibliche Instinkt der Unterwerfung wieder perfekt.

 

Es ist grausam. Für alle. Und keiner kommt auf eine andere Idee, als nach unten zu treten, die Schuldigen werden niemals in den Reihen derer gesucht, die das Land seit Menschengedenken regieren, die aus einer Schicht kommen, die alle eine der beiden Eliteschulen des Landes besucht haben. Die "die Leute", die sie regieren, völlig verachten.

 

Dabei gibt es dafür keinen Grund, denn all die Gemeinheit der "Leute" gibt es auch hier. Nur hinter dicken Mauern und in besser ausgestatteten Kellern. 

 

Sibylle Berg hat sich umgeschaut in der Geschichte Englands der letzten Jahrzehnte. 

Der von Margret Thatcher begonnene Abbau des Sozial-staates, der Niedergang der Industrie, die Bankenkrise,

die unglaublichen Mietsteigerungen, die Verfrachtung von Armen immer weiter in den Norden (dort sind die Mieten noch günstiger), die Zustände in den Krankenhäusern,

die Sexskandale einiger Stützen der Gesellschaft, die Unmöglichkeit, sich hoch zu arbeiten, überhaupt nur zu studieren, wenn man nicht aus der Oberschicht kommt,

dies und noch viele andere Mosaiksteine aus der Realität verarbeitet sie in ihrem Roman.

 

Eines der Mädchen, Karen, ein hochintelligentes Kind mit großem Interesse an Viren, hat keine Chance. Sie ist ein Albino mit zwei Brüdern und einer überforderten Mutter.

Sie sehnt sich nach Liebe, lernt einen jungen Pakistani kennen - 2012 wurden in Rochdale, wo der Roman spielt, 

zwölf Männer pakistanischer Herkunft im Prozess gegen die Rochdale Sex Trafficking Gang zu Haftstrafen verurteilt.

Die Männer hatten weiße Mädchen (Karen ist extrem weiß) jahrelang missbraucht, Berichte von betroffenen Mädchen waren von den Behörden, Ärzten etc ignoriert worden.

So erging es auch Karen.

 

In Rochdale also wachsen sie auf, die vier. 

Hannah verliert ihre Mutter, die zufällig in einen Schuss-wechsel verfeindeter Banden geriet, weil der diensthabende Arzt den ebenfalls angeschossenen weißen Mann rettet - er kann nur eine Person operieren, warum also die schwarze Frau. Hannahs Vater erträgt diesen Verlust, den Umzug in eine Sozialwohnung und den Niedergang seines Lebens nicht: er bringt sich um.

Hannah hatte nach Kräften versucht, ihn zu unterstützen, aber sie ist ein Kind.

 

Dieses Motiv zieht sich durch den ganzen Roman: die Kinder kümmern sich um die Eltern, so gut sie es schaffen.

Sie versuchen, ihnen eine Stütze zu sein. Sie sind natürlich komplett überfordert damit, sie sind Kinder.

Die Erwachsenen sind zu kaputt, um ihrer Verantwortung als Eltern nachzukommen. Und so suchen die Kinder Schutz in Gangs - oder sie akzeptieren die Einsamkeit.

 

Don entdeckt Peter, als dieser vor einem Parkhaus sitzt.

Seine aus Polen nach England gekommene Mutter hat ihn wegen eines reichen Russen verlassen, der Mann wollte kein  Kind, vor allem keines, das nicht ganz normal war. 

 

"Sie ist weg, sagte der Junge nach einer Weile.

Don interessierte nicht, wer weg war. In ihrer Welt verschwand immer jemand. Meist handelte es sich um Erziehungsberechtigte, die ins Gefängnis, in die Psychiatrie oder auf den Friedhof gerieten. Man redete hier nicht über seine familiäre Situation. Das war langweilig, denn es war in Abwandlungen immer dieselbe Geschichte: Erwachsene,

die am Leben gescheitert waren."

 

Don nimmt Peter mit in das besetzte Haus, "von jenem Abend an war die Gruppe zu viert."

 

Nach einer gewissen Zeit beschließen die vier, zusammen nach London zu gehen. In die aufregende Großstadt.

Sie werden damit Teil einer großen Gruppe: der Obdach-

losen. Keiner der Träume wird wahr, es ist wie in Rochdale, nur noch ein bisschen schlimmer.

 

Wir befinden uns jetzt in einem Post-Brexit-Britain.

Es gibt das wunderbare Grundeinkommen, dafür muss man sich registrieren lassen, man bekommt einen kleinen Chip unter die Haut und fertig. Oder man entzieht sich, wie die vier, und lebt weiter von Diebstählen. Doch auch das wird schwieriger, denn das Bargeld ist abgeschafft worden.

Also Chips aus Leichen schneiden etc pp.

 

Die selbstgestellte Aufgabe der Kinder, die immer weniger Kinder sind, ist es, die Leute zu finden, die ihnen am meisten weh getan haben, und sie zur Strecke zu bringen. In dem Überwachungsstaat ist das sogar auf gewisse Art einfacher geworden, wenn man Zugang zu all den Kameras hat, zu den "Endgeräten", die jeder benutzt - es gibt keine überwachungs-freie Zone mehr in dieser schönen neuen Welt. 

Und die Menschen sind großzügig mit ihren Daten, wer hat schon etwas zu verbergen...

 

Sibylle Berg entwickelt ihren Roman auf grausame Art sehr nah an der Realität. Sie dreht die Schraube ein bisschen weiter, aber - um im Bild zu bleiben - sie erfindet keine neuen Schrauben.

Drohnen, Smarthomes, KI, VR und so weiter, weltweit agierende Konzerne, Handys, Kryptowährungen,

Gesichtserkennung, Belohnungssysteme - all das gibt es schon. Auch die Angst der Menschen als "Dauerzustand, ... der die Reste logischen, empathischen Denkens komplett ruinierte", hat sich längst breit gemacht.

 

Die vier lernen eine Gruppe von "Freunden" kennen, die noch zu den guten Hackern gehören. Die versuchen, die Menschen aufzurütteln, indem sie bestimmte Netze übernehmen und Informationen über jedermann auf Großbildflächen projizieren. Um zu zeigen, was alles über sie gesammelt wurde. Doch:

 

"Vielleicht geht es jetzt los, denkt Hannah. Eine Revolution, die Leute werden den Staatsschutz stürmen und das Regierungsgebäude belagern, sie werden sich ihre Chips aus dem Arm beißen und ihre biometrischen Pässe verbrennen, die Kameras zerstören..."

"Sie hatten mit allem gerechnet. Mit Empörung, einem Aufstand, einem Aufschrei, aber nicht mit Gleichgültigkeit. 

Da ist nichts.

In diesem Blick."

 

Der Roman entwickelt auch deshalb einen großen Sog, weil die Abschnitte nicht nur nahtlos ineinander übergehen, sondern ineinander verwoben sind.

 

"Da ist nichts. 

In diesem Blick.

Der Leute, in deren Mitte

Hannah

Steht. 

In einem fast ursprünglichen Teil des großen Parks..."

 

Dies ist die Überleitung von einer Person bzw einer Gruppe, von einem Gedanken, einem Aspekt, einem Geschehen zu einem anderen. Der Text fließt so ungebremst weiter, bietet keine Pause zum Luftholen, er springt den Leser an, er hat etwas von dem nicht abreißenden Strom an Informationen, den der moderne Mensch täglich zu verarbeiten hat.

 

Der Stil Sibylle Bergs ist kein fein geklöppelter.

Die Wortwahl ist mitunter derb, aber treffend.

Alles andere wäre verlogen.

Sie spricht direkt, häufig auch direkt den Leser an, Sie wissen schon, und so weiter, das Lachen bleibt einem manches Mal im Rachen stecken. 

 

Und was ist GRM? Grime, die aufregendste Erfindung seit dem Punk. Die Musik derer, die sich wehren, laut sind, unkorrekt, die sich nicht ergeben haben.

Aber: auch GRM wird mainstream, mit Geld aufgeladen, verraten. GRM passt jetzt in die neue, befriedete Welt.

 

"Die Welt ist nicht untergegangen. Keine Zombierotten eiern durch atomar verseuchte Brache. Die Menschen gewöhnen sich an die neuen Umstände, die neuen Bedingungen, die neue Bescheidenheit, die neuen Menschen, die neue Einschränkung, die neuen Geräte. Die Geräte. Die Geräte.

Die allen ein so großartiges Leben versprochen haben.

Was für eine Aufregung da geherrscht hat.

Die Geräte.

Nun ist es geschafft.

Hurra. Eine neue Entwicklungsstufe.

Alles wie gehabt, mit weniger Natur. Alles wie gewohnt, nur unter Kontrolle. Die Unruhen sind vorbei."

 

Auch bei den nun jungen Erwachsenen. Sie haben überlebt, sie leben, in einer großen Leere.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sibylle Berg: GRM - Brainfucking

Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2019, 640 Seiten