Jonas T. Bengtsson - Kugelfisch

Kugelfische können sich bei Gefahr aufblasen, und so Angreifer abschrecken. Die Stacheln stehen dann spitz vom Körper ab und wirken wie Widerhaken . Damit sind sie (fast) unangreifbar.

Die neunzehnjährige, nur gute 40 Kilo leichte Sus träumt davon, über solche Fähigkeiten zu verfügen.

Denn sie muss sich wehren.

 

Sus lebt alleine in einer Wohnung, die im gleichen Haus liegt, in dem sie aufgewachsen ist. Sie hat es nicht geschafft, den "Block" (kein Mensch, der hier lebt, würde diesen Bezirk "Wohngegend" nennen), zu verlassen.

Diverse Kinderheime und Pflegefamilien hat sie hinter sich. Ihr einziger Halt war ihr älterer Bruder, doch der liegt nun mit einem Granatsplitter im Kopf im Koma. Afghanistan.

Ihr Vater sitzt im Gefängnis, fünf Jahre hat er für die fahrlässige Tötung ihrer Mutter bekommen, drei Jahre sind vorbei. Die restlichen beiden bekommt er eventuell wegen guter Führung erlassen.

 

Sus ist vollkommen auf sich alleine gestellt. Sie lebt von Fürsorge am Rand einer dänischen Stadt, sie klaut, was sie braucht. Und sie hat sich ein persönliches Abhärtungs-programm auferlegt. Jeden Tag ein Test.

Der kann körperlicher Art sein (zunehmen, sich fit machen) oder mentaler Art: Was wage ich, welches Risiko gehe ich ein, wo sind die (Schmerz)Grenzen?

 

"Sie hat etwas Wichtiges zu tun, das erste wirklich Wichtige in ihrem Leben. Sie ist nur noch nicht bereit, deshalb testet sie sich. ... Angst, Schmerz, Durchhaltevermögen.

Und Willenskraft. Das sind die Dinge, die sie testet.

Auch wenn das mit der Willenskraft weniger ein Test ist, sondern ein ständiger Kampf gegen den Drang, alles zu vergessen, sich zu einer kleinen, bekifften Kugel zusammenzurollen und den Kinderkanal zu gucken."

 

Sie hat einen Plan, der Leser erfährt lange nicht, was für einen. Klar wird das erst ganz am Ende des Romans,

und auch da wird Sus´ Ziel nicht direkt ausgesprochen.

 

Auf dem Weg dorthin wird sie dealen und zwar auf allerunterstem Niveau: auf dem Schulhof. Das ist selbst unter Dealern etwas, was man nicht tut. Weil Sus so klein ist, geht sie locker für zwölf durch, sie fällt nicht auf, auf den diversen Schulhöfen, die sie beliefert. Sie verdient gut, wird nicht erwischt und kommt so ihrem Ziel sehr nahe, was zuerst darin besteht, sich genug Geld für eine Pistole zu beschaffen.

 

Das Erschütternde an diesem Roman ist es, Sus bei ihrer Abhärtung zuzuschauen. Sie will boshaft werden, aufhören, über gut und böse, richtig oder falsch nachzudenken.

Sie ist in einer knochenharten Welt groß geworden, hier zählt das Recht des Stärkeren. Was nicht gleichbedeutend

ist mit körperlicher Stärke, sondern mit Zorn, Hass, Gewaltbereitschaft.

 

Sie lernt einen netten Jungen mit Dreadlocks kennen, sie holt sich ein Kätzchen. Doch das sind nicht Schritte in ein Leben, in dem es so etwas wie Ruhe oder Zufriedenheit gibt. 

Das Wort Glück taucht in einem solchen Leben sowieso nicht auf. Das Kätzchen tauft sie "Morgen weg", sie ist ein Übungs-objekt, an das sie sich nicht allzu sehr gewöhnen möchte.

Andererseits: je länger sie die Katze bei sich hat, um so schwerer wird es, sie weg zu machen. Also ein effektiverer Test, ein größerer Schritt zum Ziel.

 

Einmal schläft sie mit dem Jungen, sie wollte es unbedingt.

"Er liegt auf ihr, und es tut immer noch ein bisschen weh, doch das macht nichts. Er ist nicht wie die Männer, mit denen sie aufgewachsen ist."

 

Einmal verschafft sie sich Zugang zu einem Einfamilienhaus. Das ist ebenfalls Teil ihres Programms, eine Übung.

"Nie im Leben hat sie ein solches Haus von innen gesehen.

In dem eine Familie wohnt. Oder gewohnt hat. Ob es nun eine gestörte Familie war oder nicht."

In diesen schlichten Sätzen steckt so viel Einsamkeit, es scheint unmöglich, dass ein junger Mensch wie Sus jemals herausfinden soll aus dieser.

 

Der Roman blickt ganz direkt und ohne Schönung auf die unterste Gesellschaftsschicht.

Bengtssons Roman ist spannend wie ein Thriller, aber er ist keiner. Er ist ein eindrucksvolles Abbild vieler Abgründe, innerer wie äußerer.

Der Roman ist klug aufgebaut, denn er konzentriert sich auf den Weg, den Sus geht, mit szenischen Einblendungen aus der Vergangenheit.

Bengtsson beschreibt ihr Schicksal und macht unmiss-verständlich klar, dass dies kein Einzelschicksal ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jonas T. Bengtsson: Kugelfisch

Übersetzt von Frank Zuber

Kein & Aber Verlag, 2017, 192 Seiten

(Originalausgabe 2017)