Jeanne Benameur - Das Gesicht der neuen Tage

Der Kriegsfotograf Étienne ist ein erfahrener Reporter, seit vielen Jahren weltweit im Einsatz. Dass er einmal zu lange gezögert hat, bevor er weglief,

um sich in Sicherheit zu bringen, kostet ihn fast das Leben. Er wird entführt.

Er verbringt Monate in Geiselhaft,

doch er wird freigelassen, ausgetauscht, freigekauft, er weiß es nicht. Sicher ist, dass er zur Ware geworden war.

 

Er hatte eine Frau beobachtet, die ihren beiden Kindern Wasserflaschen auf die dünnen Arme lud, sie in ein Auto einsteigen ließ, in dem bereits eine zusammengesunkene Gestalt saß. Sie bereitete ihre Flucht aus einer umkämpften Stadt vor.

 

"Die Handbewegungen der Frau waren knapp und präzise. Sie sagte kein Wort. Vielleicht hatte ihn das innehalten lassen, diese Stille. Der Wagen war schwer beladen. ...

(Er war) wie erstarrt gewesen. ...

Sie versuchte, das Leben zu retten."

 

Versteinert steht Étienne da, das ist absolut unprofessionell. Das ist auch die Frage, die ihm durch den Kopf schießt:

"Wie weit kann sie es schaffen?"

Ein Reporter muss Distanz halten, unter allen Umständen.

 

Étienne kommt also zurück. Anders als sein Vater, der "auf See verschollen" ist, ein Abenteurer, der es nicht aushielt in dem kleinen Dorf. Damals war Étienne knapp drei, er hat jedoch ein paar Erinnerungen an den Vater, Bilder, die immer wieder auftauchen.

 

Nun muss Étienne ins Leben zurückfinden. Ein Ereignis verarbeiten, das sich in seine DNA eingeschrieben hat, das ihn nie mehr verlassen wird.

 

"Sie haben nicht versucht, ihn zu erniedrigen. Die Situation bewirkte das von allein. Er war zu einem Objekt geworden. Haben das die Sklaven empfunden, die auf den Märkten verkauft wurden?"

 

Étienne kehrt zurück ins Haus seiner Kindheit. Seine Mutter Irène lebt noch immer dort, alleine. Ebenfalls im Dorf geblieben ist sein Freund Enzo, ein Tischler, der nicht das Bedürfnis hat, in die Welt zu ziehen.

 

Durch Gespräche mit ihm, mit der Mutter und später auch mit Jofranka, der Dritten im Bunde der Kindheitsfreunde, tastet sich Étienne zurück ins Leben.

 

Jofranka hat das Dorf ebenfalls verlassen. So, wie Étienne mit Bildern gegen den Krieg kämpft, kämpft sie mit Worten.

Sie ist Anwältin für Menschenrechte in Den Haag geworden, sie ermutigt Frauen, Aussagen gegen ihre Peiniger zu machen. Ohne diese mutigen Frauen könnte kein Kriegsver-brecher verurteilt werden. Es ist ein Beruf, der Festigkeit und sehr viel Sensibilität erfordert - letzten Endes ist Jofranka es, die Étienne den Weg weisen kann. Denn ein zurück gibt es nicht, er muss ein neues Leben "erfinden".

 

Fünf Personen sind es, die in diesem Roman agieren.

Zu Irène, Jofranka, Enzo und Étienne kommt noch Emma, die ehemalige Geliebte Étiennes.

Sie hatte sich von ihm getrennt, weil sie das ewige Warten nicht mehr ertragen konnte. Jedes Zusammenleben mit ihm war ein "dazwischen", zwischen zwei Einsätzen. Sie fühlte sich im Lauf der Zeit wie ein Gespenst, sich selbst abhanden gekommen, reduziert auf eine "Wartende".

 

Dieses Warten ist ein tragendes Thema des Romans - vor allem sind es die Frauen, die damit zurecht kommen müssen.

Irène hatte in der Musik Trost gefunden, sie verbindet auch die drei Freunde. Sie hatten zusammen gespielt, und damals schon mit ihrer Hilfe Wunden gemildert.

Hatten erfahren, dass Schönheit und Ordnung ebenso zur Welt gehören wie das Leid.

 

 

Jeanne Benameur zeichnet genaue Innenansichten ihrer Protagonisten. Zeigt die Linien auf, die sich durch ein Leben ziehen, die Bilder, die immer wieder auftauchen.

Sie zeigt die Menschen in extremen Situationen, beschreibt mit großer Intensität die Gefühle und Gedanken, die Ängste und Hoffnungen ihrer Helden.

Auch wenn das Hauptaugenmerk auf Étienne liegt, werden doch alle anderen Personen genauso lebendig und viel-schichtig dargestellt.

 

Die Zustände des Wartens, des Ausgesetztseins, der Verlust von Vater, Mutter oder der Freiheit, das Erlebnis der Natur, die Frage: Wer ist ein Held? wird gestellt - einer, der sein Leben aufs Spiel setzt, oder der, der für andere Verantwortung übernimmt? - zum Schluss die große Frage: "Wie gerät man von der ungezähmten Natur jeder Kindheit zur Barbarei? Wann überschreitet man die Grenze zur Unmenschlichkeit? Was hat das Hirn der Menschen, die gemordet, vergewaltigt oder Massaker veranstaltet haben,

in Geiselhaft genommen?"

 

Jeanne Benameur zieht den Leser hinein in ihre Geschichte. Ihr Feingefühl, ihr Vermögen, grundsätzliche Überlegungen nicht theoretisch durchzudeklinieren, sondern ihren Protagonisten einzuschreiben, ihre Gedanken in klare Worte zu fassen und eine sehr eigenen Sprache zu finden, zeichnen diesen Roman aus. Er endet nicht mit dem letzten Satz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jeanne Benameur: Das Gesicht der neuen Tage

Übersetzt von Uli Wittmann

Oktaven - Imprint des Verlags Freies Geistesleben, 2017,

253 Seiten

(Originalausgabe  2015)