Bianca Bellová - Am See
Aus vier Teilen besteht diese wuchtige Coming-of-Age-Geschichte: Ei, Larve, Puppe, Imago. Sie spielt in einem namentlich nicht genannten kommunistischen Staat der Sowjetzeit, in dem die "Russen" verhasst sind, die Lebensbedingungen sehr schlecht und die Menschen weit entfernt von jedem Ideal oder einer Illusion.
Nami, der Held des Romans, lebt bei seinen Großeltern.
Er hat eine einzige Erinnerung an eine junge Frau, die seine Mutter gewesen sein könnte, die ein Mal mit am See war, sie trug einen Bikini. In seinem Gedächtnis wurden daraus "die drei Dreiecke." Nami war drei an diesem Tag, der Großvater der Meinung, in diesem Alter müsse man schwimmen können. Er wirft ihn ohne Vorwarnung ins Wasser, das Kind geht unter, fängt an zu paddeln und taucht wieder auf.
Er schafft es irgendwie ans Ufer, wird ohnmächtig, muss sich übergeben. Als er am anderen Morgen aufwacht, ist die junge Frau schon weg.
So in etwa sieht sein weiteres Leben aus. Er gerät in Situationen, die brutal und ausweglos erscheinen, er erfährt kaum einmal eine Hilfe, aber er schafft es, nicht unter zu gehen.
Der See ist ein mächtiges, mystisches Wesen, das seine Opfer fordert. So holt der Seegeist bei einem Sturm den Großvater zu sich in die Tiefe. Sein Wasser ist so verschmutzt, dass das Baden darin Übelkeit und Ekzeme verursacht und Tiere, die das Wasser trinken, verenden. Viele Kinder werden mit Missbildungen geboren. Sein Wasserpegel nimmt ab, so dass rund um den See eine stinkende, verseuchte Schlammschicht entsteht. Die Geister, die noch aus einem alten Aberglauben stammen, werden ergänzt durch die Teufel der modernen Umweltzerstörung.
Nach dem Tod der Großmutter - sie wurde nach einem Beinbruch dem See übergeben, die alten Riten sind noch sehr lebendig - übernimmt der Kolchosvorsitzende das Haus.
Nami ist nun zwölf oder dreizehn Jahre alt und völlig alleine auf der Welt, er kann froh sein, nicht davongejagt zu werden. Aber er darf nicht mehr zur Schule gehen, er muss für den Vorsitzenden arbeiten, schließlich wird er in den Hühnerstall gesperrt.
Nachdem es noch zu einer schrecklichen Episode mit Zaza, dem Mädchen, in das er verliebt ist, kommt, beschließt Nami abzuhauen. Er macht sich auf in die Hauptstadt. Diese liegt auf der anderen Seite des Sees. Das Dorf Boros bleibt zurück und es wäre falsch zu sagen, dass mit diesem die Kindheit zurück bleibt. Denn eine solche hatte Nami nie.
Mit der Ankunft endet der erste Teil. Aus dem Ei ist mit vierzehn Jahren eine Larve geworden, die sich zur Arbeits-börse begibt. Nami hat keine Wahl, muss annehmen, was er kriegen kann. Er verrichtet schwere, dreckige Arbeit in der Schwefelproduktion, als Asphaltierer. Er lebt in einem Wohnheim mit weiteren elf Männern im Zimmer.
Er begibt sich auf die Suche nach seiner Mutter.
"Er hat niemanden, den er fragen, mit dem er sich beraten könnte. Er weiß auch nicht, wie er sich erkundigen soll;
er weiß weder, wie seine Mutter heißt, noch wie sie aussieht. Er weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt. Er sucht eine Frau, deren Existenz genauso real ist, wie die des Seegeistes."
Es widerfährt Nami nichts Gutes. Ein Mann, den man seinen Freund nennen könnte, kommt ums Leben. Ein neuer Arbeitgeber, der ihn anfangs anständig behandelt, tötet ihn fast. Nami lernt, dass die Upper Class keineswegs zivilisierter ist, als die Arbeiter oder Bauern, die er kennen lernte.
Durch einen glücklichen Zufall (nach einer lebens-gefährlichen Situation) kommt er zu der Alten Dame.
Sie ist ein Überbleibsel der alten Zeit. Sie ist kultiviert, hat politische Erfahrung und Verbindungen. Und sie hat ein Herz. Sie nimmt Nami auf, er soll ihren Garten in Ordnung bringen. Damit taucht zum ersten Mal ein Gedanke an die Zukunft auf, denn einen Garten bestellen heißt, an morgen denken. Bisher galt es immer nur, den Tag zu überstehen.
Wie durch ein Wunder kann ihm die Alte Dame einen Hinweis geben, wo Nami seine Mutter finden könnte.
Wieder macht er sich auf den Weg. Nach Kutze.
"Kutze ist ein Dorf mitten in der Wüste. Von der Hauptstadt erreicht man es nach elfstündiger Busfahrt über staubige Pisten. Am Dorf entlang fließt ein Kanal zur Bewässerung der Baumwollfelder. Vor Jahren haben sie ihn vom Fluss Dere aus gegraben, der in den See mündet. Wohin Nami auch blickt, sieht er nur endlose Schneefelder aus Baumwolle: Baumwolle, Baumwolle, Baumwolle."
Mit der Baumwollproduktion wird auch dort die Umwelt zerstört. Doch in diesem dritten Teil, "Puppe" überschreiben, findet Nami seine Mutter. Das ist ein Wunder, wie schon die Alte Dame ein Wunder war.
Doch wer glaubt, Nami sei nun am Ziel, der täuscht sich.
Er möchte auch noch seinen Vater finden...
Ganz am Ende bringt ein Mann in Boros, der sein Großvater sein könnte, Nami das Tauchen bei. Er möchte diesem bei der Suche nach seinem Sohn helfen "und endlich mit eigenen Augen diesen verfluchten Seegeist zu Gesicht" bekommen.
Das Schicksal Namis ist äußerst hart. Bellová erzählt es bild-stark, direkt und ohne Umschweife in einer glasklaren Sprache. Sie knüpft es an den See, der mehr als eine Kulisse ist. Er ist ein Sinnbild der Unberechenbarkeit und Gnaden-losigkeit, der Tiefe, der Einsamkeit, der Kraft.
Namis Einsamkeit ist kein selbstgewähltes Experiment,
wie z.B. jener Rückzug in die Berge, den Céline Minard in
"Das große Spiel" so grandios beschreibt.
Bellová knüpft an den existenzialistischen Gedanken des Geworfen-Seins an. Wie der Großvater Nami in den See warf, so ist er in ein Leben geworfen, das ihm alles abverlangt. Dieses "alles" erzählt Bellová beeindruckend gut.
Bianca Bellová: Am See
Übersetzt von Mirko Kraetsch
Kein & Aber, 2018, 240 Seiten
(Originalausgabe 2016)