John Banville - Im Lichte der Vergangenheit

Alex Cleave ist Mitte sechzig, Theater-schauspieler, verheiratet in abgekühlter Ehe mit Lydia, Vater einer Tochter, Catherine, Cass genannt, die sich vor zehn Jahren das Leben genommen hat. 

In dieses Leben flattert völlig unerwartet das Angebot einer Filmgesellschaft, eine Hauptrolle zu übernehmen. Das ist Neuland, nie zuvor drehte Alex einen Film.

 

Überrascht und geschmeichelt, froh auch über die Ablenkung, sagt Alex zu.

Er wird einen Wissenschaftler spielen: Axel Vander.

Der Titel: Erfindung der Vergangenheit.

 

Diesen Vander gibt es quasi zweimal. Den echten, der aus Antwerpen stammt und in den ersten Kriegsjahren verstarb. Dann den zweiten, der einfach diesen Namen angenommen hat und in seine Rolle geschlüpft ist. "Der falsche Vander hat die Laufbahn des richtigen als Journalist und Kritiker fortgesetzt, ist aus Europa geflüchtet und nach Amerika gegangen, hat geheiratet und sich in Kalifornien niedergelassen, ... und hat dort viele Jahre lang an der Universität gelehrt." Vander gehört zu den Dekonstruktio-nalisten, er hat mehrere Bücher geschrieben und sich einen internationalen Ruf erworben. Nach dem Tod seiner Frau ging Vander nach Turin, dort verstarb er zwei Jahre später.

 

Soweit das Skript. In diese doppelte Persönlichkeit schlüpft ein Mann, der als Schauspieler an sich eine multiple Person ist. Und der im Lauf der Geschichte herausfindet, dass dieser Vander eventuell in Portovenere war, als seine Tochter Cass sich von den Klippen ins Meer stürzte.

 

Wie sich herausstellte war Cass schwanger. Von wem, das hat Alex nie erfahren. In den Auszeichnungen von 'Cass findet sich der Name Swidrigailow, wer dies war, lässt sich nicht nachvollziehen.

 

Die Filmpartnerin Alex´ ist die berühmte Dawn Devonport, eine bezaubernde junge und zarte Frau, die unter dem Tod ihres kürzlich verstorbenen Vaters leidet. 

Sie fühlt sich verlassen, kommt ins Trudeln und möchte schließlich auch nicht mehr leben.

Ihr Suizidversuch misslingt. Um ihr - oder sich selbst? - zu helfen, fährt Alex mit ihr nach Portovenere. Vielleicht kann er mit Dawn an der Seite etwas über Cass Tod herausfinden?

 

Die Handlung, die sich um die Tochter und den Film rankt,

ist nur ein Teil der Geschichte.

Mehr Raum nimmt die Erinnerung an die erste und stürmische Liebe des fünfzehnjährigen Alex zur fünfund-dreißigjährigen Mutter seines Freundes Billy ein.

Sie hat ihn in die Wonnen der Leidenschaft eingeführt.

Sie hat ihr ganzes Leben als Ehefrau und Mutter aufs Spiel gesetzt, um sich mit ihm zu treffen. In einem abgelegenen, halb verfallenen Häuschen im Wald, im Auto, beim ersten und letzten Mal, wo sie dann auch entdeckt wurden, in der heimischen Waschküche. 

 

Sie ist bleibt für ihn Mrs. Gray, nie nennt er sie beim Vornamen. Als ob er ein Stückchen Distanz hielte, um sich selbst und die Geliebte besser sehen zu können.

Und er hat ganz genaue Erinnerungen an diese Zeit.

Ganze Dialoge kann er wiedergeben, Gerüche und Gefühle erinnern.

 

In dieser Beziehung liegt die Geburtsstunde des Schauspielers, so sagt er rückblickend. Hier lernte er sich zu verstellen, denn was wäre geschehen, wenn Billy ihm angesehen oder angemerkt hätte, was er gerade mit seiner Mutter gemacht hat?

 

Sehr gekonnt und geschickt baut Banville die drei Zeitebenen ineinander: die Gegenwart des Films und der Bekanntschaft mit Dawn, die nähere Vergangenheit seit Cass´ Tod, die Zeit vor fünfzig Jahren mit der verbotenen Liebe und dem damit verbundenen Ende der Kindheit.

 

Über allem schwebt die Frage nach Erinnerung und Erfindung. Was war, was ist zusammengereimt, was hat das Gedächtnis aus all den Bruchstücken im Lauf der Zeit konstruiert? Wie oft moduliert?

Wenn ein Mensch die Summe seines Lebens ist und die Erinnerungen auf derart sandigem Untergrund bestehen,

aus wie vielen Personen besteht dann ein Mensch?

 

Der Titel des Films, Vanders doppelte Persönlichkeit, der Schauspieler Alex, Dawn, die mit richtigem Namen ganz anders heißt und von Alex wie eine Tochter behandelt werden möchte, Erinnerungen, die offensichtlich falsch sind, wie sich ganz am Ende herausstellt, Personen, die an falschen Orten wieder auftauchen - Banville lässt keinen Zweifel daran, dass es wesentlich mehr als eine Variante der Vergangenheit und damit auch der Wahrheit gibt.

Diese Erkenntnis wird in vielen verschiedenen Varianten und Spiegelungen in seinem Roman durchgespielt.

 

Da die ganz Zeit über klar ist, dass es viele ungelöste Rätsel gibt, bleibt die Geschichte bis zum Ende in einem Schwebe-zustand.

Was mit Mrs Gray geschah, erfährt Alex eines Tages.

Sie war direkt nach ihrem Auffliegen geflohen. Das Haus zum Verkauf angeboten worden, Alex hatte sich "zum ersten Mal im Leben ganz und gar allein" gefühlt. Denn immer hatte sich die Geliebte auch als Mutterfigur präsentiert und damit den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter symbolisiert. Und immer war Alex eifersüchtig gewesen auf Billy - diese Art der Intimität war eine andere gewesen.

 

 

Zu Alex´ Überraschung hat sich vieles ganz anders zugetragen. Er erfährt, dass seine Variante der Geschichte

auf Phantasie beruht, dass sein Gewissen ihm eine eigene Wahrheit eingeflüstert hat. Er erinnert als alter Mann (so fühlt er sich nun endgültig) den Jungen, der plötzlich so alleine dastand.

"Etwas war zu Ende gegangen, etwas, wovon ich geglaubt hatte, es werde niemals enden. Wen würde ich nun lieben, und wer würde mich lieben? Ich hörte zu, wie meine Mutter schnarchte..."

Er wird viele Frauen lieben, alle werden Spuren in ihm hinterlassen, aber keine so tiefe wie Mrs. Gray.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

John Banville: Im Lichte der Vergangenheit

Übersetzt von Christa Schuenke

Kiepenheuer & Witsch, 2014, 336 Seiten

Taschenbuch ebenfalls Kiepenheuer & Witsch, 2015, 336 S.

(Originalausgabe 2012)