Marco Balzano - Ich bleibe hier

Welcher Italienreisende kennt ihn nicht, diesen aus dem Wasser ragenden Kirchturm? Pittoresk,

wie für ein Selfie geschaffen, von einer ganz besonderen Magie.

Unter der Wasseroberfläche liegen zwei Dörfer begraben, Graun und Reschen, sowie einige kleine Weiler. 163 Häuser versanken bei der Stauung des Reschensees im Jahr 1950, der sechs Kilometer lang und einen Kilometer breit ist. 

 

In diesen Roman um die Hauptperson Trina, geboren um 1900, ihren Mann Erich, die Kinder Marica und Michael, hat Marco Balzano fünfzig Jahre Südtiroler Geschichte gewebt.

Diese Region wurde 1919 vom übrigen Tirol abgetrennt und vom Königreich Italien faktisch annektiert. Mit dem Aufstieg Mussolinis begann die gnadenlose Italianisierung des Landes - ab 1923 wurde beispielsweise Italienisch zur einzig zugelassenen Sprache, die jedoch kaum jemand beherrschte.

 

Die Bevölkerung bekam keine Arbeit mehr, vor allem Arbeiter aus Süditalien wurden in den neu entstehenden Industrieanlagen beschäftigt. Die Lehrerin Trina erhielt nach ihrer Ausbildung keine Anstellung, ebenso wenig ihre Freundinnen. Die Arbeit in der elterlichen Landwirtschaft blieb die einzige Möglichkeit, für den Lebensunterhalt zu sorgen. 

 

Trina entschließt sich, in einer sogenannten "Katakomben-schule" zu unterrichten. 

"In die Katakomben gehen hieß, heimlich Deutsch zu unterrichten. Das war illegal und bedeutete Geldstrafen, Prügel und Rizinusöl. Man konnte sogar auf eine abgelegene Insel verbannt werden." Wie Trinas Freundin Barbara.

 

Mitte der zwanziger Jahre heiratet Trina Erich. Bald kommt Michael zur Welt, dieser wird sich noch als Jugendlicher den Faschisten anschließen.

 

"Vier Jahre mussten vergehen, bis du auf die Welt kamst. ...

Du wurdest in einer Winternacht geboren. ..."

 

Der Roman ist in der Ich-Form verfasst, er ist die Geschichte der Mutter Trina, erzählt für ihre verlorene Tochter Marica.

Diese verließ das Dorf  in jungen Jahren, hinterließ einen tiefen Schmerz, veranlasste letzten Endes Trina, alles aufzuschreiben.

 

Irgendwann war es, "als hätte es den Faschismus seit eh und je gegeben. ... Wir hatten uns daran gewöhnt, nicht mehr wir selbst zu sein.  ... Allmählich glich unsere Wut der Melan-cholie, sie explodierte nie. Auf Adolf Hitler zu hoffen war die einzige Rebellion. ... So dämmerten wir tatenlos und unter-drückt bis zum Sommer 1939 dahin, als Hitlers Deutsche erschienen, um uns zu verkünden, dass wir, wenn wir wollten, Italien verlassen und ins Reich kommen könnten. Sie nannten es die `große Option´. "

 

Vor eine solche Wahl werden die Dorfbewohner anlässlich des Staudammes ein weiteres Mal gestellt: entweder, sie nehmen eine lächerlich kleine Entschädigung für ihre Häuser und ihr Land an, oder sie beziehen ein winziges Häuschen ohne die Möglichkeit, Landwirtschaft zu betreiben, das die Gesellschaft baut, die auch den Damm errichtet.

"Vierunddreißig Quadratmeter ... So viel Raum war jeder Familie zugeteilt worden, egal, aus wie vielen Personen sie bestand."

 

Erich ist die treibende Kraft im Kampf gegen den Staudamm-bau, der nur während des Krieges kurz zum Erliegen kommt. Die Menschen glauben nicht, dass der 1911 zum ersten Mal gefasste Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt wird. 

Sie haben genug andere Sorgen, sind ausgelaugt, nur wenige Male tun sie sich zusammen und verteidigen ihre Dörfer.

 

Dem Einberufungsbefehl widersetzt sich Erich, indem er in die Berge flüchtet, zusammen mit Trina. Dort spielen sich sehr dramatische Szenen ab, wie später auch bei Zusammen-stößen von Arbeitern, Ingenieuren, Demonstranten und Polizisten an der Baustelle. Es geht um Leben und Tod.

 

Marco Balzano hat sehr genau recherchiert, Überlebende befragt, in Archiven gesucht. Diese Fakten hat er in die Form der Ich-Erzählung gegossen und sie damit in eine greifbare und menschliche Geschichte verwandelt.

In dieser erzählt er im Kleid der Lebenserinnerungen im Kern von Machtausübung. Davon, wie über Menschenleben hinweg gegangen und entschieden wird, im Zeichen des Fortschritts, der Notwendigkeit, der Vernunft.

 

Eine genaue historische Aufarbeitung dieses Kapitels der Geschichte Italiens steht noch aus. Es gibt einige erzählerische Texte, doch die Forschung ist keineswegs abgeschlossen. So ist es neben der gelungenen Erzählung auch ein großer Verdienst Balzanos, dieses Stück Land und die Ereignisse von damals ins Gedächtnis zu rufen.

 

Man wird bei der nächsten Überquerung der Alpen über den Reschenpass mit anderen Augen auf den Kirchturm blicken.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marco Balzano: Ich bleibe hier 

Übersetzt von Maja Pflug

Diogenes Verlag, 2020, 288 Seiten,

(Originalausgabe 2017)