Anna Baar - Nil
"Ich bin das freundliche Ploppen, wenn ein Apfel ins Gras fällt, bin Monster, Märtyrer, Nichts, Form der Unmöglich-keit, Strudel und Projektion, ein Gedicht, das man aufsagt, ohne es zu verstehen. Oder ein Zookrokodil. Alles fließt und flutet in das schöne Wort Nil. Ob ich ein Meerschwein bin? Der Nil mündet schließlich ins Meer."
Ein Schriftsteller ist ein Erfinder,
"Nur in meinen Geschichten bin ich ganz und gar ich."
Was also ist Wahrheit, was Lüge, Ausgedachtes, Erfundenes?
Verzeichnet eine Geschichte die Welt? Kann es sein, dass ein Text, oder schon Notizen, die Wirklichkeit nach sich zieht? Ist Schreiben ein Wirklichkeitszauber?
Der Roman von Anna Baar, geboren 1973, ist eine poetische Erforschung des Geschichtenerzählens.
Ihre Heldin ist eine Frau, die Fortsetzungsromane für ein Frauenmagazin schreibt. Ihr Chefredakteur verlangt nun ein rasches Ende in der folgenden Nummer, zu sehr ist die Story aus dem Ruder gelaufen. Sie macht sich an die Arbeit.
"Die letzten Tage und Nächte habe ich mich am Schlussteil versucht, schließlich alles verworfen, denn wie es geschrieben stand, ging mir alles so nahe, als ginge es dabei um mich, aber nicht rückwärtsgerichtet, nicht memoirenhaft aus dem Leben gegriffen, sondern wahrsagerisch, mitten ins Leben hinein. Mit einem Mal schien es unmöglich, zu einem Schluss zu kommen, ohne selbst zugrunde zu gehen. Es sei denn, sagte ich mir, ich fände einen anderen Ausgang, eine Art Hintertüre, durch die ich beizeiten entwischte. Wer weiß, wo die Wahrheit beginnt und wo sie zu Ende ist?"
Die Erzählerin erfindet einen Mann namens Sobek. Ende zwanzig ist er, lebt noch bei den Eltern. Sympathisch ist er nicht. Auch er versucht sich am Schreiben, trifft ganz zufällig eine "fremde Bekannte", die ihm ohne Aufforderung ihre Geschichte diktiert. In dieser erkennt er sich wieder.
Und stellt sich dieselben Fragen wie die Erzählerin, die aus demselben Elternhaus zu kommen scheint. Markant ist vor allem die Mutter, die einen Konservierungswahn hat.
Alles wird eingekocht, "geordnet, gesammelt, datiert", vor allem aber wird alles auf Videofilme gebannt. Da sehen sich dann die Erwachsenen als Kinder durchs Bild flitzen, erinnern sich an die Gefühle, identifizieren sich aber nicht mit der Person.
Das fremde Kind scheint ein "Ichling" zu sein. Man selbst und doch nicht. Ein Spiegelbild aus einem Hohlspiegel.
Der Vater ist ein Zoodirektor, der am Ende den Zoo aufgibt.
Und das wundervolle Krokodil ausstopfen lässt und verkauft. Auch hier wieder das tödlich Konservatorische, dem die Lebendigkeit des Erzählens gegenüber gestellt wird.
In Schleifen, mit Rückblenden, an-der-Nase-herumführen, mit Ausflügen in die Fotokabine oder den Steinbruch, erzählt Anna Baar von mehreren Figuren, die Aufspaltungen einer einzigen zu sein scheinen. Sie tut es mit Freude am Fabulieren und mit tiefer Nachdenklichkeit.
"Sobek sah der Frau ins Gesicht: Ich kenne mich nicht mehr aus. Du wolltest doch los von dem Kerl.
Nicht ehe sein Bild von mir letztlich jener Frau glich, die ich so gerne wäre in den Augen der andern. Ich musste ihm dazu freilich erst Geschichten erzählen, die ihn hellhörig machten: wie ich den Bruder ertränkte oder wie die Eltern in einem Flammenmeer starben ...
So weit würdest du gehen?
Schreib mit, wie werden schon sehen."
Die Zitate zeigen, dass Anna Baar über verschiedene Tonlagen verfügt, sie jedoch immer um die gleichen Themen kreist. Es ist ein großes Vergnügen und ein Ansporn, ihr dabei zu folgen.
Sie lässt ihre Figuren träumen, taucht ab in deren unschöne Seiten, verweist auf die Flüssigkeit von Erinnerungen und auf die ewige Suche nach Schutz und Zuflucht.
Der Fluss, "ein dunkler Streifen satten Grüns inmitten steiniger Wüste" ist "eine feuchtheiße Zuflucht", an dessen Ufer "mein Schatten " hinzutritt. So die Erzählerin, die am Ende des Romans ein Ende für ihren Fortsetzungsroman sucht. Dichter kann ein Textgewebe kaum sein.
Anna Baar: Nil
Wallstein Verlag, 2021, 148 Seiten