Johannes Anyuru -
Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken
"Ich glaube nicht, dass diese Geschich-te, oder irgendeine Geschichte, die ein Mensch erzählen kann, einen einzigen Anfang hat, sondern mehrere. Und im Grunde hört nichts jemals auf."
Auf diesem Gedanken beruht die Geschichte des schwedischen Schrift-stellers Johannes Anyuru, geb. 1979 .
Sie spielt in der Gegenwart, speist sich aus der Vergangenheit und auch die Zukunft spielt ganz entscheidend mit hinein.
Der Roman beginnt mit einem Anschlag auf einen Comic-buchladen in Göteborg. Der Besitzer des Ladens heißt sicher nicht zufällig Hondo, der Zeichner Loberg soll an diesem Abend sein neues Buch präsentieren. Es zeigt Karikaturen, die viele Muslime als diffamierend empfinden.
Drei junge Leute, zwei Männer, eine Frau, stürmen den Laden, nehmen die Gäste als Geiseln, Hondo und Loberg überleben, doch Hamad und Amin werden erschossen.
Die junge Frau - Amin nennt sie Nour - kommt davon.
Ihre Aufgabe ist es, den Anschlag zu filmen und ins Netz zu stellen.
Zwei Jahre später bittet Nours Arzt den Ich-Erzähler, einen Schriftsteller, um ein Treffen mit ihr. Sie lebt in der psychiatrischen Klinik "Tundra" und hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Diese möchte sie dem Mann, dessen Bücher sie gelesen hat, übergeben, ihm schenken.
Aus diesen beiden Strängen ist der sehr komplexe Roman komponiert.
Das Leben des Schriftstellers, der eine afrikanische Mutter und einen schwedischen Vater hat, mit einer algerisch-stämmigen Frau verheiratet und in der "Kaninchensiedlung" aufgewachsen ist, kommt in Berührung mit dem Leben Nours, die aus der Zeit gefallen scheint.
Die Polizei hat ermittelt, dass die Attentäterin Annika Isagel heißt, aus Belgien kommt, als Vierzehnjährige zum Islam konvertierte, ihre Familie verließ, zu ihrem Freund zog und kurze Zeit später verschwand.
Sie verschwand in dem Gefängnis al-Mima in Jordanien.
Der belgische Staatsschutz hatte sie dorthin gebracht, hier konnten Verhörmethoden angewandt werden, die in demo-kratischen Ländern nicht möglich waren.
Nachdem ihre Eltern eine Rückkehr nach Brüssel erwirken konnten, musste Annika in ein Krankenhaus. Sie war körperlich und geistig am Ende. Doch nach einigen Monaten verschwindet sie aus dem Krankenhaus und taucht später in Göteborg wieder auf.
Die Doppelfigur Annika-Nour erzählt dem Schriftsteller
eine Geschichte aus der Zukunft. Das "Tundramädchen",
wie er sie für sich nennt, meint, aus der Zukunft zurück gekommen zu sein. Das Schweden dieser Dystopie hat sich in ein islamophobes Land verwandelt, in dem die Leute einen "Bürgervertrag" unterschreiben müssen, um ihre Rechte zu behalten. Unterzeichnet man diesen nicht, wird man zum "Schwedenfeind" und kommt in die Kaninchensiedlung, die zu einem Lager mit mehreren Zonen geworden ist. Mit dem "Haus T" in der Mitte, das niemand lebend wieder verlässt.
"Das Mädchen in der Klinik glaubte, dass ihr Bewusstsein in der Zeit zurückgeschickt worden war und irgendwie in Annika Isagels apathischen Körper gelangt war, als dieser sich in al-Mima befunden hatte. Aus irgendeinem Grund war sie nicht nur zurück in der Zeit, sondern auch seitwärts gereist, in unsere Welt, die anders war als die von ihr verlassene...".
Zwar glaubt der Schriftsteller, das Mädchen leide an Wahn-vorstellungen und Schizophrenie, doch etwas aus dem, was sie schreibt und sagt, fließt in sein Denken und löst Zweifel daran aus, ob er in Schweden bleiben möchte.
Der Roman thematisiert das Vorgehen und die Vergehen des demokratischen Westens in Gefängnissen wie Abu Ghraib, genauso die alltägliche Ausgrenzung von Muslimen oder Juden in Gesellschaften, die sich für nicht rassistisch halten.
Außerdem die Richtung, in die sich ein Land, in dem rechte Kräfte immer stärker werden, entwickeln kann.
Er ist zugleich die poetische Geschichte von Menschen, die die Angst als eine Art grundlegenden Seelenzustand vererbt bekommen haben. Der Schriftsteller hat sie von seiner Mutter geerbt, er erkennt den Moment, an dem er sie an seine Tochter weitergibt.
Es ist ein Roman, der die gängige Vorstellung von linearer Zeit infrage stellt.
Ebenso die Verlässlichkeit der Wahrnehmung und des Bewusstseins.
Letzten Endes auch die Tat, die Tatsachen.
Symbolisiert wird die vielfach gebrochene Realität durch ein Faden-Abhebespiel. Hierbei wird ein um zwei Hände gesponnener Faden immer wieder von einer zweiten Person abgehoben, jedes Mal entsteht ein neues Muster.
Dieses Spiel spielt der Erzähler mit dem Mädchen, später mit seiner kleinen Tochter.
Auch mit den LeserInnen spielt er es, denn es ist nicht einfach, dieser auf verschiedenste Art verwobenen und in sich gespiegelten Geschichte zu folgen.
Doch sie entfaltet ihre innere Logik und überrascht mit einem Ende, in dem sich Trauer in Hoffnung verwandelt.
Johannes Anyuru:
Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Luchterhand Verlag, 2021, 336 Seiten
(Originalausgabe 2017)