Katixa Agirre - Die lustlosen Touristen
Von Ulia und Gustavo handelt dieser Roman, der Roadnovel, Beziehungs-geschichte und Reise in die Vergangen-heit zugleich ist. Das junge Ehepaar fährt von Madrid, wo die beiden leben, ins Baskenland. Gustavo möchte die Heimat Ulias kennen lernen. Er, Jurist und Genussmensch, lenkt mit Vergnü-gen sein neues Auto, währenddessen hat die Musikwissenschaftlerin genug Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen.
Ihre Karriere als Sängerin musste Ulia aufgeben, noch bevor sie richtig begann. Eine Erkrankung führte zum Verlust ihrer Singstimme, stattdessen hat sie sich für eine Promotion entschieden. Ihr Thema: Benjamin Britten (1913-1976) und der Pazifismus.
Der britische Komponist, der 1939 England den Rücken kehrte, um in den USA dem Kriegsdienst zu entgehen, drei Jahre später aber wieder zurückkehrte, ist nicht nur musi-kalisch eine sehr interessante Person.
Brittens Lebensgeschichte und Einstellungen bilden einen der aus drei Erzählsträngen komponierten Roman.
Sie zeichnen ein Hintergrundbild zu den Gedanken über Krieg und Frieden, über die Möglichkeit der Einflussnahme, über gesellschaftliche Strukturen und den Spielraum des Einzelnen.
Der im Vordergrund stehende Erzählstrang sind die Erlebnisse, Gedanken und Erinnerungen Ulias.
Sie ist nun Mitte, Ende zwanzig und reflektiert in der Ich-Form über ihr Leben.
Ihre Gegenwart teilt sie seit einigen Jahren mit Gustavo.
Kennengelernt haben die beiden sich bei den Anschlägen in der Madrider U-Bahn im März 2004. Beide blieben äußerlich unverletzt, waren jedoch völlig schockiert, wie die ganze Stadt.
Der Gewaltakt wurde zu Beginn der ETA angelastet, der baskischen Untergrundorganisation.
Und dieses Thema - der bewaffnete Widerstand der Basken gegen die spanische Zentralregierung - bildet den dritten Strang.
In einer über weite Strecken des Romans hinweg separat erzählten Geschichte, wird in der dritten Person von "ihr" und "ihm" berichtet. "Sie", das ist Mariluz, sie dürfte in den fünfziger Jahren geboren sein, arbeitet als Lehrerin, ist verheiratet und hat eine Tochter. "Er" ist ein Mann, der seit den 1980er Jahren im Gefängnis sitzt, ein Anlass über Schuld und Vergebung nachzudenken.
Was zunächst wie eine parallele Erzählung erscheint, fügt sich nach und nach in das Gesamtbild. Sehr gekonnt und auch sehr spannend, setzt Katixa Agirre aus winzigen Mosaiksteinchen eine faszinierende Geschichte zusammen.
Gewalt in verschiedenen Formen, auch die Anziehungskraft, die sie ausüben kann, der Umgang mit diesem Phänomen,
der sehr unterschiedlich ist und auch davon abhängt, wie gewohnt eine Gesellschaft an Gewalt ist, außerdem die nicht zu unterschätzende Wirkung der Medien, bis hin zu Fragen der persönlichen Aufrichtigkeit spiegeln sich in diesem Roman, der immer wieder eine überraschende Wendung nimmt.
Zur Spannung tragen auch die unterschiedlichen Blickwinkel auf die Personen bei. Ulias Leben ist massiv geprägt von dem, was eine Generation vor ihr geschah. Ihre Auseinander-setzung damit verdeutlicht, dass die Gegenwart ohne die Vergangenheit nicht zu verstehen ist.
Und so ist der Roman nebst vielem anderen eine Suche nach Heimat, für Ulia auch ganz konkret nach ihrem Vater.
Die 1981 in Vitoria-Gasteiz, Hauptstadt der autonomen Region Baskenland, geborene Autorin, hat ihren Roman auf Baskisch geschrieben und dann selbst ins Spanische übersetzt. Mittlerweile ist er in zehn Sprachen zu lesen und rückt damit eine relativ kleine Region in den Fokus.
Aus diesen vielen kleinen Regionen besteht Europa - insofern können "Die lustlosen Touristen" auch als Teil der unendlich variantenreichen europäischen Geschichte gelesen werden.
Katixa Agirre: Die lustlosen Touristen
Aus dem Spanischen übertragen von Silke Kleemann
Edition Converso, 2021, 240 Seiten
(Originalausgabe 2015)