Etel Adnan - Wir wurden kosmisch
Ein Langgedicht aus dem Jahr 1968 -
"Ein Trauermarsch für den ersten Kosmonauten" - ein Interview, geführt im Mai 2019, Zeichnungen, die nach diesem Gespräch und als Reflexion darauf angefertigt wurden, Bilder, die zeitgleich mit dem Gedicht entstanden und Fotos von Raketenstarts - das alles beinhaltet dieses kleine Buch!
Zunächst zu Etel Adnan: sie kam 1925 in Beirut zur Welt.
Nach dem Krieg begann sie in Paris Philosophie zu studieren, setzte ihr Studium ab Mitte der fünfziger Jahre in den USA fort und unterrichtete von 1958-72 in Kalifornien. Darauf folgten einige Jahre in Beirut, dann wieder Paris, wieder Kalifornien, heute lebt die Dichterin und Künstlerin in Paris.
Ein bewegtes Leben, das sich in einer bewegenden Kunst spiegelt. Die Kostproben, die in "Wir wurden kosmisch" abgedruckt sind, zeugen davon.
Es sind Bilder ohne Anfang und ohne Ende, sie erzählen keine lineare Geschichte, stellen kein Ereignis dar, sie sind Fluss, Linie, Spirale, Zeichen - für den Kosmos, das All.
Der erste Mensch, der in einer Kapsel ins Weltall flog, war der russische Kosmonaut Juri Gagarin. Am 12. April 1961 umrundete er einmal die Erde - damit wurde Unmögliches plötzlich möglich. Der uralte Menschheitstraum wurde wahr. Gagarins Name reiht sich in Etel Adnans Gedicht neben Ikarus, Dädalus, neben Jesus und Mohammed - hat nicht jede Religion jene, die in den Himmel auffahren?
Dieser Raumflug war für die Dichterin eine Zeitenwende.
Gagarins tödlicher Flugzeugabsturz im März 1968 eine Tragödie, die sie veranlasste, das Gedicht zu schreiben.
Sie bezeichnet es als eine "religiöse Zeremonie", als "Gebet", der Titel lautet "Ein Trauermarsch".
Verbunden mit diesen Bezeichnungen ist die Tatsache, dass die USA - anders als Europa oder der Nahe Osten - keine "Zeremonien für die Toten" kennt. Der Mensch wird mit dem Tod alleine gelassen - so einsam wie Gagarin in seiner Kapsel im Weltall.
Das Universum, die Träume, die sich damit verbinden, und ganz irdische Aspekte bis hin zu kriegerischen Ausein-andersetzungen (auch der Kalte Krieg) spielen hinein in das Gedicht, das sich ganz buchstäblich zwischen Himmel und Erde spannt.
Japan und Hiroshima, San Quentin, Karthago, durch den Raum und die Zeit schweift Etel Adnan in ihrem Gedicht.
Es fließt wie ein Strom, nimmt hier und dort ein Steinchen mit, überschlägt sich, dreht sich um, nimmt am Ende Gedanken des Anfangs noch einmal auf, gedenkt der Heiligen und der Toten, vergisst die Lebenden nicht, die nun in einer veränderten Welt wohnen.
Gagarins Flug war für die Dichterin ein Kunstwerk, "eine Revolution, eine neue Welt. Eigentlich eher eine neue Dimension. Weil wir nicht mehr hier waren, wir sind fortgegangen." Der Flug und auch der "ironische Tod", das "schwimmen" Gagarins im Himmel, beschreibt sie als spirituelles Ereignis, als eine Erfahrung, die "ein Fenster öffnet" - das vorliegende Buch möchte diese Erfahrung vermitteln.
Im Zusammenwirken des Gedichtes mit den Zeichnungen, mit den Fotos, die auf die Realität verweisen, diese betonen und der Sprache des Gedichts entsprechen, mit dem Interview, das einen weiteren Blick in die Gedankenwelt
Etel Adnans erlaubt, ist dem Verlag ein Gesamtkunstwerk gelungen.
Die Herausgeber, Übersetzer und Gesprächspartner Etel Adnans, Joshua Groß und Moritz Müller-Schwefe, haben
das Gedicht frei übersetzt, in unsere Sprache und unsere Gegenwart übertragen. Ihre klugen Fragen im Interview beginnen bei der Zeit vor fünfzig Jahren, als das Gedicht entstand, kreisen um die Reaktionen der Dichterin und ihrer Zeitgenossen auf den Flug Gagarins. Es geht um den Platz der Erde im All, die Frage, ob wir nun alle Kosmonauten sind ("Ja."), um Politik, Mystik, Religon, Spiritualität, Utopien und die Kunst.
Es wäre leicht gewesen, abzuschweifen, doch die beiden Fragenden führen sehr konzentriert die Verbindungslinien aus, die Adnan zwischen der rationalen und der mystisch-
kosmologischen Ebene sieht, und sie stellen im Zusammenspiel mit den eingefügten Zeichnungen die kulturellen Zusammenhänge her. Sie "öffnen ein Fenster."
Etel Adnan: Wir wurden kosmisch
Ein Gedicht, Zeichnungen, Fotografien und ein Gespräch
Herausgegeben von Joshua Groß und Moritz Müller-Schwefe
in Zusammenarbeit mit dem Institut für moderne Kunst Nürnberg
starfruit publications, 2019, 80 Seiten mit 23 Abbildungen