Simone Regina Adams - Flugfedern
Thibaut, Anfang zwanzig, ist auf dem Weg von einem Dorffest nach Hause. Dieses ist auf dem Hof seiner Großmutter Mémé, einer Französin, die nach dem Krieg bei der Familie ihres Mannes Paul am Rande irgendeines deutschen Dorfes gelandet ist. Auf diesem Weg durch den Wald hört er Schreie: eine Frau wird vergewaltigt, Thibaut rennt hin, vertreibt den "Kerl" und nimmt die junge Frau mit nach Hause. Es gibt wohl kaum eine schrecklichere Art, jemanden kennen zu lernen.
Sophie ist verstört, zittert, spricht nicht. Nur dass sie weder zum Arzt, noch zur Polizei möchte, sagt sie.
Erst am nächsten Morgen bittet sie ihn, sie nach Hause zu bringen. Thibaut fährt Sophie hin, doch noch bevor er wenden und wegfahren kann, hört er Schreie.
Er sieht Sophie, "die ihm entgegenstürzte; dahinter eine Frau in der Tür des Hauses, die Hände vor dem Mund; er sah einen Mann, sein rotes, verzerrtes Gesicht, die Hosenträger überm Unterhemd, eine große, noch immer zum Schlag ausholende Hand". Sophie stürzt sich ins Auto, sie fahren zurück zu Mémé.
Thema der Novelle ist nicht die Konstruktion von Familien.
Doch bereits im ersten Kapitel ist klar, dass diese bei weitem nicht immer das liebevolle Nest ist.
Hat der Vater Sophie bedroht, weil sie über Nacht nicht nach Hause gekommen war?
Und Thibaut? Warum lebt er bei der Großmutter, die während des Krieges schwanger von einem Deutschen als Französin zu Pauls Eltern kam? Paul ist nicht im Krieg umgekommen, aber an ihm zerbrochen. Mémé war alleine für die Tochter Mathilde verantwortlich. Mit kaum zwanzig bekommt diese Thibaut, drei Jahre später zieht Mathilde in die Stadt, zu dem noch verheirateten Vater Thibauts.
Sie lässt den Jungen bei der Großmutter zurück.
Für kurze Zeit holt sie ihn zu sich, doch ein Leben mit Kind ist anstrengend, gebunden. Bald ist er zurück auf dem Hof.
Einmal ist er mit seiner Mutter und ihrem Mann in einem schönen Haus mit Garten. Er kommt von der Terrasse herein und sieht plötzlich nur noch die nackten Beine seiner Mutter hinter dem Sofa hervorragen. Kurz darauf kommt sein Vater zum Vorschein, er schließt gerade seine Hose.
"Doch das Entsetzlichste, das Allerentsetzlichste ist der Blick, der ihn jetzt trifft; der Blick seines Vaters ... Schau nur, sagt der Blick seines Vaters. Schau nur hin.
Thibaut stürzt zusammen, bloß seine Hülle steht noch da
wie zuvor. ... Er weiß, er hat irgendetwas falsch gemacht.
Aber er weiß nicht, was."
Die beiden Erlebnisse (Sophies Vergewaltigung und was immer der kurze Sex der Eltern war) legen sich in Thibauts Gedanken übereinander.
Offensichtlich ist, dass keiner der Akteure, bis hin zu Mémé, ein Nest hat, in dem es in Ruhe wachsen und gedeihen kann.
Ein solches möchte Thibaut Sophie nun bieten.
Sie leben zusammen bei Mémé - bis Sophie eines Tages verschwunden ist. Nach Monaten der Suche und des Bangens, sieht Thibaut sie wieder, mit einem anderen Mann.
In den folgenden Jahren kommt es zu mehr als einer Trennung und Wiederannäherung. Thibaut liebt Sophie,
aber nimmt er sie ernst?
Für die Tochter Jule ist Thibaut ein wunderbarer Vater.
Er hält den Alltag aufrecht, auch als er nicht mehr studiert, sondern als Psychologe in einer Klinik arbeitet.
Sophie zieht sich phasenweise vollkommen in sich selbst zurück, sie fragt, wann denn ihr Leben endlich beginne.
Schließlich kommt es zur endgültigen Trennung.
Er hatte gehofft, sie würde sich die Flugfedern ausreißen,
wie es die Nashornvögel tun, wenn sie ihre Eier in einer sorgfältig mit Lehm verschlossenen Baumhöhle ausbrüten.
Das Männchen versorgt das Weibchen mit Nahrung.
Erst wenn die Jungen geschlüpft sind, verlässt das Weibchen mit nun nachgewachsenen Flugfedern die Bruthöhle.
Sophie aber wollte ein eigenes Leben neben der Familie mit Kleinkind. Für Thibaut war ihr Theaterkurs ein Stecken-pferdchen, Sophie aber wollte Schauspielerin werden.
Viele Jahre später, Thibaut ist mit Helene verheiratet, die beiden haben eine gemeinsame Tochter, erhält Thibaut
einen Brief von Sophie. Sie habe eine Aufführung in Prag,
ob sie sich nicht dort treffen wollten?
Mit dieser Begegnung endet die Novelle und damit schließt sich der Kreis zur ersten Begegnung am Anfang der Geschichte. So, wie die Gedanken eines Menschen von der Gegenwart immer wieder in die Vergangenheit wandern, sich an Ereignisse, Stimmungen oder Erzählungen anderer erinnern, entwickelt Simone Adams die verschlungenen Linien, die das Bild des Lebens ergeben.
Es ist aus Thibauts Sicht gemalt, dieses Bild. Auch wenn die Novelle nicht in der Ich-Form erzählt ist, sondern ein Erzähler von außen auf die Geschehnisse blickt, reflektieren sich doch alle Personen in Thibaut. Diese Konzentration erschafft einen Roman, der sehr ruhig und klar, fast schlicht, von großen und erschütternden Ereignissen, und auch von den kleinen, alltäglichen, ohne die kein Bild auskommt, erzählt. Sie bleiben im Gedächtnis haften, Adams Figuren, weil sie sehr eindringlich beschrieben werden.
Simone Regina Adams: Flugfedern
Klöpfer & Meyer, 2018, 160 Seiten