Margaret Forster -
"Ich warte darauf, daß etwas geschieht"
Durch die Vermittlung einer Verwandten lernt Maragret Forster im Jahr 1999 die damals achtundneunzig-jährige Millicent King kennen. Miss King hat im November 1914 begonnen Tagebuch zu schreiben, und sie hat dies bis ins Jahr 1995 fortgeführt.
Ein Jahrhundert umspannendes Werk. Die Idee der Verwandten war, dass man "etwas daraus machen" könne und vermittelte deshalb ein Treffen zwischen der Tagebuch-schreiberin und der Schriftstellerin.
Nach einem Besuch bei Millicent King und der vollständigen Lektüre sämtlicher Bücher beschließt Margaret Forster,
die Tagebücher herauszubringen. Gekürzt bzw. gestrafft und mit Anmerkungen versehen.
Die vorliegenden knapp 600 Seiten sind die Texte, die Millicent schrieb, dazwischen finden sich die Passagen,
mit denen Forster immer wieder Abschnitte überbrückt,
in welchen nicht viel geschah oder die Einträge wenig informativ waren. Manchmal fasst sie so zehn Jahre zusammen, z.B. die Dekade von 1971-1981. In diesen Brückenabschnitten gibt sie Ereignisse oder Stimmungen wieder, die sie aus vielen Seiten Tagebuch konzentriert hat.
Millicent kommt im Jahr 1901 zur Welt. Sie hat zwei ältere Geschwister, George und Matilda, im Lauf der Jahre folgen ihr die Zwillinge Alfred und Albert, dann kommt Michael zur Welt und als letztes Kind der Familie Grace.
Ihr Vater betreibt ein Möbelgeschäft, die Mutter kümmert sich mit Hilfe von Personal um die Familie. Sie sind nicht reich, aber auch nicht arm.
In jungen Jahren neigt Millicent sehr zu Selbstmitleid.
Sie leidet unter den vielen Geschwistern. Die Zwillinge machen immer Krach, sie hat kein eigenes Zimmer und als während des Krieges die Dienstmädchen wegfallen und Millicent mithelfen muss, findet sie harsche Worte für den Kinderreichtum ihrer Eltern. Sie ist der Meinung, zwei Kinder reichen, höchstens drei, alles andere sei "verantwortungslos." Als ihr Bruder in den Krieg zieht und sie dessen Zimmer bekommt, freut sie sich sehr. Und als er psychisch schwer verwundet zurückkehrt, leidet sie mehr unter dem Verlust des Zimmers als unter der Krankheit des Bruders. Überhaupt bringt sie herzlich wenig Verständnis für ihn auf.
Nach dem plötzlichen Grippetod des Vater im Januar 1919 ändert sich ihr Leben massiv. Sie muss das College verlassen, wo sie eine Lehrerinnenausbildung begonnen hatte, sie muss arbeiten. Sie wird Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft. Sie leidet und leidet.
Doch als die Mutter kein Jahr später wieder heiratet, einen Kinderarzt, und nach Brighton zieht, kann Millicent ans College zurückkehren und weiterstudieren. Sie ist auch finanziell unabhängig, da sie geerbt hat - das elterliche Haus wurde verkauft und der Erlös unter den drei älteren Geschwistern aufgeteilt. Später, nach dem Tod der Mutter, erbt sie noch Aktien, die ihr lebenslange Sicherheit geben. Sie braucht das Geld nicht auf, weiß aber, dass sie darauf zurückgreifen könnte.
Nach ihrer Ausbildung arbeitet Millicent an einer Grundschule, gönnt sich sogar eine Reise nach Paris.
In gewisser Weise genießt sie ihr Leben, findet aber ihre Lehrerinnentätigkeit erschreckend banal.
Sie sehnt sich nach Höherem. Sie kündigt, arbeitet für eine kleine Literaturzeitschrift, kündigt auch dort, geht für ein halbes Jahr als Lehrerin nach Italien, dann als Gesellschafterin der siebzehnjährigen Daphne nach Leeds. Millicent ist mittlerweile vierundzwanzig - und noch immer ledig. Das beunruhigt nicht nur ihre Schwester, vor allem ihre Mutter fragt bei jeder Gelegenheit, ob sie denn eine "Romanze" hätte.
Das hat Millicent in der Tat, sie erzählt es nur nicht.
Gleich zwei Verehrer machen ihr Heiratsanträge, sie lehnt aber beide ab. Mit dem einen der beiden hatte sie eine leidenschaftliche Beziehung. Millicent ist zwar eher konservativ, aber nicht prüde. Und sie hat sich erkundigt, wie man verhütet und wendet diese Methoden konsequent an.
Ihr Leben nimmt eine Wendung, als sie ein weiteres Studium aufnimmt: sie wird Sozialarbeiterin. In den 1930er Jahren ist das ein ganz neuer Beruf. Hier wird sie mit Elend konfrontiert, das sie bisher nicht kannte. Sie kannte hungrige Kinder und prügelnde Lehrer und Väter aus ihrer Zeit als Lehrerin, aber solch desolaten Verhältnisse wie hier sind ihr neu.
Durch diese Tätigkeit ändert sich Millicents Perspektive erheblich: sie kommt weg von der permanenten Nabelschau ihrer jungen Jahre und dem ständigen Suchen nach besagtem "Höheren." Sie hatte immer wieder geschrieben, dass sie sich nicht entscheiden kann und auf etwas wartet, daher auch der Titel, bzw. dass sie eigentlich nicht weiß, was sie will. Ihre Sehnsucht ist diffus, im Grunde fehlt ihr ein Ziel. Sie weiß nur, was nicht ihr Ziel ist: heiraten und Hausfrau werden.
Zum ersten Mal richtig verliebt ist Millicent mit Mitte dreißig, als sie Robert kennen lernt. Er ist ein Kollege, verheiratet, aber getrennt von seiner Frau lebend.
Die beiden treffen sich heimlich, er will sie nicht kompromittieren. Sie ist mutiger und offener als er und überredet ihn schließlich, in ihr Haus mit einzuziehen, eine Etage über ihr. So können sie den Schein wahren und doch zusammen sein.
Dieses Arrangement beendet der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Robert meldet sich freiwillig, auch Millicent rückt ein. Sie fährt Krankenwagen, später arbeitet sie in der Luftabwehr. Eine aufregende Zeit mit vielen Umbrüchen und Ängsten folgt, vielen Verlusten und Verzweiflung.
Ihre innersten Gefühle vertraut Millicent nicht ihrem Tagebuch an. Wenn etwas ganz Schlimmes passiert, schreibt sie nichts. Als ob dies unaussprechlich wäre. Erst später notiert sie in kurzen Worten, was geschehen ist.
Robert wird nicht zurückkehren, Millicent wird zur Ersatzmutter von Connie und Toby, das sind die Zwillinge ihrer Schwester Matilda, die zusammen mit ihrem Mann und den beiden älteren Kindern bei einem Bombenangriff ums Leben kam. So wird Millicent mit über vierzig Jahren de facto Mutter, was sie zwar nicht kategorisch für sich ausgeschlossen, jedoch auch nicht wirklich gewollt hatte.
Nach dem Krieg arbeitet sie wieder halbtags als Lehrerin und zieht die beiden Kinder groß. Toby wird später ein verschlossener Mann, der in die Vereinigten Staaten auswandert, weil er dort als Physiker bessere Arbeits-bedingungen hat. Die Verbindung zu ihm bricht ab.
Zu Connie hat sie bis fast zu ihrem Lebensende -Millicent stirbt am 13. Januar 2000 - regen Kontakt.
Connie (Jahrgang 1937) ist das Verbindungsglied zur modernen Zeit. Sie engagiert sich in der Frauenbewegung und in der Anti-Atombewegung, sie lebt in Protestcamps und WGs, sie heiratet ebenfalls nie, da sie sich voll und ganz der Politik verschrieben hat.
In ihrem langen Leben zeichnet Millicent die Entwicklungen des ganzen 20. Jahrhunderts auf. Die beiden Kriege, die Schwierigkeit für Mädchen zu studieren, die Abhängigkeit von den finanziellen Verhältnissen der Eltern, das Ringen um Selbständigkeit, der Wunsch, sich selbst und die eigenen Wünsche zu verwirklichen, die Suche nach einem adäquaten Partner, die Möglichkeiten, die der Krieg plötzlich eröffnete (Frauen wurden außerhalb der Familie gebraucht), die ewigen Erwartungen der Familie, man möge doch endlich heiraten, das neue Betätigungsfeld der sozialen Arbeit, später durch Connie die Bewegungen der 60er/70er Jahre, die Entwicklungen in England, nachdem Margret Thatcher die Politik zu bestimmen begann. Schließlich das eigene Erstaunen Millicents, wenn sie Dinge zu Connie sagt, die ihre Mutter zu ihr gesagt haben könnte. Das Erstaunen auch darüber, dass die Generation Connies blind dafür ist, dass es Frauen vor ihnen gegeben hat, die um Eigenständigkeit bemüht waren - im Privaten (und damit unsichtbar) und nicht auf Demonstrationen und bei spektakulären Aktionen, die im Fernsehen gezeigt werden. Das empfindet Millicent als Ungerechtigkeit, denn sie hat es sich nicht einfach gemacht. Das Alleinsein verlangte ihr viel ab und sie hat immer ihren Lebensunterhalt selbst verdient.
In die Geschichte mit eingewoben sind die vielen anderen Schicksale der diversen Familienmitglieder, die den Rahmen oder Hintergrund für Millicents Leben bilden. Und wenn sie auch als junge Frau sehr dagegen war, sich für andere zu "opfern", so hat sie doch nie jemandem die Hilfe verweigert, wenn er sie brauchte.
Sie selbst empfindet ihr Leben als "gewöhnlich."
Margaret Forster stellt die Frage, ob es ein gewöhnliches Leben überhaupt gibt. Schon von außen betrachtet war es das von Millicent sicher nicht. Und all die anderen Leben?
Diese Frage möge jeder Leser selbst beantworten.
Millicents Tagebücher "erzählen die Geschichte eines nicht sehr bemerkenswerten Lebens, dabei wurde das, was Millicent King als ganz gewöhnliche Frau erlebt hat, von so vielen ihrer Generation geteilt. Für mich ist sie auf ihre Weise ebenso ein Symbol wie der "Unbekannte Soldat":
die Unbekannte Frau ihrer Zeit."
Margaret Forster: "Ich warte darauf, daß etwas geschieht"
Übersetzt von Roseli und Saskia Bontjes van Beek
Arche Verlag, 2005
Fischer Taschenbuch Verlag, 2007
(Originalausgabe 2003)