Milena Michiko Flasar - Ich nannte ihn Krawatte
Dies ist ein ganz stilles, in seiner schlichten Sprache poetisches Buch.
Es spielt in Japan, in einer Großstadt.
Die beiden Hauptpersonen sind aus der Norm gefallene Männer, einer Ende der Fünfziger, der andere erst zwanzig Jahre alt.
Ich-Erzähler ist Taguchi Hiro, der jetzt eigentlich die Schule beendet haben und Kurs auf ein neues Leben nehmen müsste, statt dessen aber zu einem Hikikomori geworden ist. Das ist die japanische Bezeichnung für junge Menschen, die sich der Welt verschließen.
Die mit dem Erwartungsdruck der Eltern und der Gesellschaft nicht zurecht kommen und mit einem Totalrückzug reagieren. Geschätzt gibt es derzeit zwischen 100.000 und 300.000 von ihnen, die Dunkelziffer dürfte hoch sein, denn wer gibt schon gerne zu, einen solchen Menschen in der Familie zu haben.
Nach zwei in seinem Zimmer verbrachten Jahren schafft es Taguchi endlich wieder, das Haus zu verlassen. Er geht in einen nahegelegenen Park, zu genau der Bank, auf der er als Kind mit seiner Mutter immer saß.
Ihm gegenüber sitzt ein Salaryman, der zur Mittagszeit sein mitgebrachtes Essen verspeist und gegen Abend weggeht.
Die beiden sehen sich immer wieder, bis sie beginnen, miteinander zu sprechen, und Taguchis Bank zu ihrer Bank wird.
"Er" erzählt, dass er arbeitslos geworden ist, das kann er seiner Frau Kyoko unmöglich sagen. Ihr gemeinsames Leben basiert darauf, dass der über Jahrzehnte eingeübte Alltag unverändert funktioniert. Die Brücken, die sie ihm baut, als sie "vom Ausbrechen, vom Zurücklehnen, vom Nichtstun ", spricht, lässt er unbeschritten.
Taguchi erzhält von der "Höhle", die sein Kinderzimmer für ihn war (ist), der Angst vor Veränderung, der Trauer um die verlorene Kindheit.
Sie kommen in ihren Unterhaltungen schließlich so weit, dass sie an den jeweiligen Kern ihrer Probleme vorstoßen. Die Ursache liegt bei beiden darin, weggeschaut zu haben. Und nicht reagiert, nicht gehandelt zu haben.
In beider Leben hat sich eine Tragödie ereignet, der erwachsene Salaryman hat es geschafft, einige Zeit damit zu leben, der junge Taguchi nicht.
Und doch, im Lauf ihrer Gespräche, als sich die Erkenntnis herauskristallisiert was wirklich geschehen ist und wie unglaublich wichtig das Nicht-Gesagte ist, die Hand, die nicht gegeben wurde, dass das nicht gelebte Leben so schwer wiegt wie das gelebte, zeigt sich auch die Andeutung eines Weges heraus aus der Höhle bzw. der Lüge.
Es ist ein Roman über den "Blick", über das Sehen.
Vorsichtig in Worte gesetzt, die manchmal nicht sagbar sind. Da reißen die Sätze ab, mal fehlt ein Verb, mal das Wort, das den Gedanken zu Ende denken sollte.
Der namenlose Angestellte in seinem grauen Anzug wird für Taguchi zu einem Lehrer, ohne dies jemals gewollt zu haben. Er selbst hatte einen Klavierlehrer, der ihm zwar nicht das spielen, dafür aber das Hören beigebracht hat.
Das fühlende Hören.
Am Ende der gemeinsamen Geschichte angekommen, ruft Taguchi "ihn" an:
"Hören Sie mich? Schluchzend. Sie hatten Recht. Mein Sterbegedicht ist schon lange fertig. Was es noch zu schreiben gilt aber, ist das Gedicht, welches, niemals fertig, ein endloses Anreiben der Tusche, ein endloses Eintauchen des Pinsels, ein endloses Gleiten über weißes Papier,
das Gedicht meines Lebens ist. Ich will versuchen, es niederzuschreiben. Gleich, nein jetzt will ich es versuchen. Die erste Zeile: Ich nannte ihn Krawatte. Ich will schreiben: Er hat mich gelehrt, aus fühlenden Augen zu schauen."
Für Krawatte kommt die Begegnung zu spät, Taguchi kann nun das tun, wovor er so schreckliche Angst hatte:
groß werden.
Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte
Wagenbach Verlag, 2012, 144 Seiten
Taschenbuch: btb, 2014, 144 Seiten