William Faulkner - Schall und Wahn
Faulkner hat mit diesem 1929 erschienenen Roman ein Jahrhundertwerk geschaffen. Stilistisch nimmt er die von James Joyce entwickelte Idee des Bewusstseinsstroms auf und führt diese Erzähltechnik zur Meisterschaft. Scheinbar ungeordnet und ungefiltert notiert er die Gedankengänge seiner Personen, beleuchtet ein Familienleben aus verschiedenen Blickrichtungen und entwirft dabei eine sehr dichte Textur von Erinnerungen und Erinnerungsfetzen.
Der Roman "Schall und Wahn", im Original "The Sound and the Fury", bezieht seinen Titel aus Shakespeares Macbeth: "Leben .... ist nichts mehr als eine Fabel, erzählt von einem Idioten, voll mit Schall und Wahn, die nichts bedeuten."
Faulkner lässt im ersten von vier Kapiteln ausschließlich Benjamin zu Wort kommen.
Benjamin, einer von drei Söhnen der Familie Compson,
ist von Geburt an geistig behindert. Er kann nicht sprechen, äußert sich durch Stöhnen, Jammern und Schreien.
Es gibt für ihn weder Vergangenheit noch Gegenwart, für
ihn ist alles gleichzeitig da. Er kennt nicht den Unterschied zwischen sich selbst und einem Objekt, entfernt er sich zum Beispiel von einer Scheune, geht sie für ihn weg oder sie ist weg.
Er erzählt aus der Ich-Perspektive und der Leser lernt so die Personen kennen, die um ihn herum sind.
Die Mutter Caroline, eine kranke Frau, die in ihrem von Kampferdüften geschwängerten Zimmer im Bett liegt und sich damit der Realität entzieht.
Die Schwester Candace, genannt Caddy, die ein Herz für den Bruder hat und sich ihm gegenüber kindlich-naiv benimmt. Mit Jason, einem der beiden Brüder, ist nicht gut Kirschen essen. Er wünscht sich hauptsächlich, der schwachsinnige Bruder käme endlich in die Irrenanstalt nach Jackson, dann müsste er diesen ewigen Schandfleck nicht mehr ertragen.
Quentin, der vierte Spross der Familie, studiert in Harvard. Damit er dies tun kann, musste das letzte Stück eines einst großen Landes verkauft werden. Auf dem ehemaligen Familienbesitz ist nun ein Golfplatz entstanden. Benjy steht gerne am Zaun und schaut zu, das darf er aber nicht, niemand soll ihn sehen (obwohl alle Welt ihn kennt).
Desweiteren sind Dilsey, das schwarze Hausmädchen, ihr Mann Roskus und ihre Söhne Luster und Versh, sowie ihre Tochter Frony und deren Sohn T.P. weitere Bewohner des im Verfall begriffenen Herrenhauses.
Diese Dienstboten sind diejenigen, die die Ordnung aufrecht erhalten, denn auch der Herr des Hauses, Vater von Benjamin und den anderen Kindern, wird seiner Aufgabe, die Rolle des Familienoberhauptes auszufüllen, nicht gerecht, er trinkt sich zu Tode.
Dieses erste Kapitel ist relativ schwierig zu lesen. Man muss sich auf die Gleichzeitigkeit einlassen, auf die Sprünge, die Benjy macht, darauf, dass man nie sicher ist, das aus seinen Gedanken herauszulesen, was irgendwie Sinn macht.
Am besten ist es, sich ganz auf den Stil zu konzentrieren und die Informationen aus den Worten "der anderen" zusammen zu setzen, so ergibt sich im Lauf der Seiten ein aussagekräftiges Bild.
Das zweite Kapitel beschreibt den letzten Tag im Leben Quentins. Er nimmt sich 1910 das Leben und spielt damit achtzehn Jahre vor den drei anderen Teilen des Buches.
Wie erwähnt, studiert Quentin in Harvard und ist sich wohl bewusst, welches Opfer die Familie für ihn brachte.
Doch er hat eine Schuld auf seine Seele geladen, mit der er nicht mehr weiterleben kann und ertränkt sich im Fluss.
An seinem letzten Tag kümmert er sich noch rührend um
ein kleines Mädchen, das sich verlaufen hat. Und wird bezichtigt, sie entführt zu haben. Dies ist eine Reflexion auf seine Schuld, die ebenfalls nicht stattfand, ihn aber umbringt.
Die häufigste Äußerung Quentins ist "sagte Vater" - auch dieses Kapitel ist eine Aneinanderreihung von Gedanken und Rückblicken in die Vergangenheit - und der Stand und Zustand diverser Uhren. An markanten Punkten schägt eine Uhr, die große Standuhr im Hause Compson geht drei Stunden nach, die Taschenuhr des Großvaters hat nur noch einen Zeiger, zum Zeitpunkt von Quentins Tod ist das Ziffernblatt seiner Uhr blutverschmiert, weil er sie kaputt gemacht hat. Und des Vaters Uhr ist durch seinen Alkoholismus vor der Zeit abgelaufen.
Die rückwärts gewandte Südstaatenfamilie hat es nicht geschafft, sich in der nach der Abschaffung der Sklaverei angebrochene Zeit neu zu erfinden. Sie hängt vergangenen guten Tagen nach und verzehrt die Reste davon (wie z.B. das verkaufte Stück Land, das das Studium finanzieren sollte).
Neben den Ausgaben für Harvard wurde von diesem Geld auch Caddys Hochzeit bezahlt. Sie ist ein gefallenes Mädchen, für das schnell ein Ehemann gefunden werden musste. Benjamin ist nun nicht mehr der einzige Schandfleck der Familie, ebenso die Tochter mit ihrem unehelichen Kind. Dieses Enkelkind, auch ihr Name ist Quentin, wächst als ungeliebter Fremdkörper im Hause der Großmutter auf.
In diesem Haus ist im Jahr 1928, in dem der Roman spielt, Jason der Hausherr. Er hat es beruflich zu nichts gebracht,
es war kein Geld für eine Ausbildung da. Er arbeitet in einem Laden für Landwirtschaftsbedarf, nebenbei spekuliert er mit Aktien. Und erleidet Schiffbruch.
Er ist ein ewig nörgelnder, unverschämter, rassistischer und Menschen verachtender Junggeselle, der sich dann und wann mit einer Prostituierten tröstet, aber pausenlos den Moralwächter spielt.
Er, der die Stimme des dritten Kapitels ist, ist sich nicht zu schade, den monatlichen Scheck, den Caddy für Quentins Unterhalt schickt, in seine eigene Kasse zu stecken.
- Die Schecks, die die Mutter Monat für Monat aus Stolz vernichtet, sind Fälschungen. Das weiß natürlich nur Jason selbst, der sich auf diese Weise ein eigenes Vermögen ergaunern will.
Dumm für ihn, dass ausgerechnet Quentin eines Tages seine Geldkasse stiehlt und mit einem Mann vom Jahrmarkt flieht, um sich ein eigenes Leben aufzubauen...
Der vierte und letzte Teil wird von einem außerhalb der Familie stehenden Erzähler gestaltet.
Hier werden einige lose Fäden, einige angedeutete Punkte, zusammengeführt und eingereiht.
In der Hauptsache ist von Dilsey und Jason die Rede, wobei die alt gewordene Haushälterin die bei weitem umfassendste Figur des Romans ist, im Sinne nicht nur der Bewältigung
des Lebens, sondern auch des Einfühlungsvermögens in andere Menschen.
Als Mrs. Compson stirbt und Dilsey zu ihrer Tochter zieht, hat Jason freie Hand und verkauft die letzten Reste des Familienbesitzes, und damit auch der Idee einer großen Familie.
Jedes Kapitel zeichnet sich durch einen völlig anderen Stil aus. So sehr, dass die Teile von verschiedenen Dichtern geschrieben scheinen. Faulkner gab jeder Person die ihr eigene Sprache, auch den Schwarzen.
In jedem Teil wird der Verfall der Familie und auch der Individuen dargestellt, in Quentin bis zum Tode.
Nur Caddy, der einzigen Compson, der der Absprung gelang (wenn auch unter der schmerzhaften Zurücklassung ihrer Tochter), ist keine persönliche Sicht auf ihr Leben eingeschrieben. Caddys Lebensweg wird durch ihre Mutter und Geschwister erzählt und durch Dilsey. Auch die Tochter Quentin lernt man über das Umfeld kennen, diesen beiden bleibt eine Innensicht verwehrt. Weil sie weggehen?
Der Roman liegt nun in einer zeitgemäßen Neuübersetzung vor, die versucht, jeder Person ihre eigene Sprache und damit ihre eigene Persönlichkeit zu geben.
Und auch die verschiedenen Stile und Ebenen Faulkners adäquat wiederzugeben.
Diese Mammutaufgabe hat Heibert bravourös gelöst.
Das Lesen ist anstrengend, aber jede mit diesem Roman verbrachte Stunde ist eine gewonnene.
William Faulkner: Schall und Wahn
neu übersetzt von Frank Heibert
Rowohlt Verlag, 2014, 384 Seiten
Rowohlt Taschenbuch, 2015, 384 Seiten
(Amerikanische Originalausgabe 1929)