René Fülöp-Miller - Die Nacht der Zeiten

"Wir müssen aushalten und den Hügel halten, ihr Viecher!"

"Gehorsamst, Herr Kommandant."

Was auf dem Hügel jetzt noch gehalten werden mußte, war in der Falte das große Loch der Toten und die kleinen Stollenlöcher, in denen die Überleben-den darauf warteten, ins große Loch hinübergeschafft zu werden. Draußen am Gelände hielten wir einen Müllhaufen leerer Hülsen, Monturfragmente, zerschrottete Gewehre, umgestürzte Munitionskästen und Tonnen zersplitterten Eisens. Und an den Flanken? Tote Überreste eines von Kugeln und Wetter gefällten Waldes, geköpfte Bäume, erfrorene Äste, fratzenhafte, aus Trichtern hervorstarrende Wurzelknollen. Und darüber stand die bis zum felsigen Gebein entblößte Anhöhe, die gleich einem kahlen Totenschädel steif auf uns herabsah.

"Wir müssen aushalten und den Hügel halten, ihr Viecher."

"Gehorsamst, Herr Kommandant."

 

Die tödlich geschundene Natur spiegelt das Elend der fast verhungerten, fast verdursteten Soldaten. Sie sind eine Resttruppe zermürbter, ihrer Menschlichkeit beraubter Männer - die trotzdem immer noch gehorchen.

 

Sie haben gegen in die Irre führenden Nebel, alles ertränken-den Regen, alles verwehenden Wind, gegen Kälte und Schlamm, gegen Herbst und Winter, sprich, gegen die Elemente selbst gekämpft. 

Sie haben gelernt zu akzeptieren, dass man über Befehle nicht nachdenkt, sondern sie ausführt. Wie die Lemminge (einer von Adams Kameraden trägt diesen Namen) springen sie über jede Klippe, sofern dies befohlen wurde.

Sie haben gelernt, dass die Toten nach einer Schlacht kein Begräbnis erhalten, sondern in eine Grube verfrachtet werden, und dies nur ein letzter Hinweis darauf ist, dass es im Krieg nicht um das Individuum, sondern um die Einheit geht. Ein individueller Tod wäre auch nicht auszuhalten, selbst wenn ein großer Teil an Menschlichkeit schon längst vor dem Menschen selbst gestorben ist. 

Sie haben die Erfahrung gemacht, dass nicht einmal das unausweichliche Verhungern durch ausbleibenden Proviant dazu führt, dass das Protokoll geändert und der offizielle Amtsweg abgekürzt wird. Der "Dienstweg (ist) das Jüngste Gericht, in dem der Amtsschimmel die Bittsteller zur ewigen Verdammnis verurteilt."

Sie erlebten, dass der Tod der Kameraden Freude hervor-rufen kann, bedeutet er doch eine größere Ration im Teller - "Es war das Brot der Toten, das uns beglückte, das Wasser der Toten, das uns erfrischte".

Als die Wasservorräte aufgebraucht sind, der Wind den Tau noch vor den Männern vom Gras geleckt hat, wagen sich nicht wenige Männer unter Beschuss zur letzten Quelle, die noch Wasser hergibt. Auch Adam Ember, der Ich-Erzähler, hätte einem Sterbenden den letzten Tropfen genommen, wäre er nicht von einem Konkurrenten überrascht worden. Denn: "Der Durst saß tiefer als Einsicht und Barmherzigkeit, saß im innersten Gewebe, wo die Urnotdurft sitzt."

 

Der Roman ist aus der Sicht Adam Embers erzählt, der den Totengräbern zugeteilt wurde. Im zivilen Leben ist er Pharmazeut, ein Beruf, den auch René Fülöp-Miller (1891-1963) erlernte, bevor er studierte und sich dem Schreiben zuwandte. Auch der Autor hatte sich freiwillig gemeldet und an den Vorbereitungen zur Karpatenschlacht im Winter 1914/15 teilgenommen, bei der das österreichisch-ungarische Heer fast 250.000 Soldaten verlor.

 

Die historischen Fakten bilden den Hintergrund für einen Roman, der vom Krieg an sich erzählt. Plastisch und eindrücklich schildert René Fülöp-Miller was der Krieg mit und aus Menschen macht, wenn sie zum "Magenkehlentier" werden. 

 

Es geht nicht um Heldentaten oder Ehre, es geht um das schlichte Überleben. In jedem Kapitel, mit einem jeweils eigenen Schwerpunkt, demontiert der Autor nach und nach alles, was dem Krieg seinen gefährlichen Glanz verleiht, er macht klar, dass es nur einen Sieger gibt: den Tod. 

 

"Adam, merk´s, Kriege sind nur für den Tod da. Ob gesiegt oder verloren, wird einerlei. Es geht stets nur um die große Armee unter der Erde." So der "Totenhauptmann", Komman-dant der Totengräber, ein Mann, der sich vom Leben ab- und der Ewigkeit des Todes zugewandt hat.

 

Dieser Hauptmann taucht auch in einer Vision auf, die Adam (hebräisch: Mensch) Ember (ungarisch: Mensch) kurz vor den letzten Szenen des Romans erlebt.

In dem "Mysterium" überschriebenen Kapitel steht der tote, steifgefrorene Totenhauptmann an einem Baum. Als Adam ihn in ein Loch legen möchte, wird dies immer größer und gibt den Blick frei auf ein ganzes "Bataillon von Toten", die sich "auf die Beine gemacht haben". Es defilieren Tote aus allen Zeiten, aus aller Welt vor Adams Augen, der auch die "Gedächtnisfeier der Vaterlandstoten" mit Musik und Kampfliedern betrachtet. Diese Lieder werden abgelöst durch die Klagen, schließlich Anklagen der Frauen, die "Mörder und Ermordete" gebaren - zu allen Zeiten, überall.

 

Dieser unglaubliche Schlussakkord erhält noch ein Nach-spiel: Licht und Finsternis kämpfen miteinander, der "Auferstandene" wird "von neuem gekreuzigt", die Apoka-lyptischen Reiter erscheinen, zum Schluss erscheinen Wissenschaftler, die das "Projekt Zero" verkünden. 

Unmissverständlich tauchen hier die Waffen des Zweiten Weltkrieges auf, u.a. die Atombombe - man sieht selbst die ganz modernen Waffen am Horizont heraufziehen.

 

"Die Nacht der Zeiten" erschien 1955 in Amerika, wohin der Autor 1939 emigrierte. In ihn flossen die Erfahrungen weiterer Kriege ein, auch wissenschaftliche Erkenntnisse, wie das "Es" Sigmund Freuds, dessen Konzept erst 1923 publiziert wurde.

 

Dieses "Es" ist nicht nur ein weiterer Beleg für die Überzeit-lichkeit des Romans, es sorgt auch für manch merkwürdige Interpretation - er hat durchaus seine ironischen Elemente, manchmal ist jedoch nicht zu unterscheiden zwischen Ironie und Galgenhumor.  

 

Der Roman erschien nun erstmals in der Deutschen Originalfassung, entdeckt vom Verleger Stefan Weidle in einer amerikanischen Bibliothek. Es ist nicht übertrieben, das Werk in einem Atemzug mit Remarques "Im Westen nichts Neues" oder Kafkas "Das Schloss" bzw. "Der Process" zu nennen, behandelt es doch in einer zwischen Realität und Surrealität, zwischen Realität und Mythos angesiedelten Art auf tiefgründigste Weise das ewige Menschheitsthema Krieg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

René Fülöp-Miller: Die Nacht der Zeiten

Mit einem Nachwort von Rolf Bulang

Weidle Verlag, 2023, 332 Seiten

(Deutsche Erstveröffentlichung, Englische Übersetzung des Deutschen Originals erstmals 1955 erschienen)