Lisbeth Exner - Realitätenhandlung

Neunundvierzig Minuten

Dieser "Ortstermin" soll "maximal neunundvierzig Minuten dauern". So viel, so wenig Zeit wird benötigt, um zu entscheiden, wie die demente Mittsiebzigerin aus der Wohnung, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hat, "delogiert" werden kann. Der Roman ist ein Kammerstück für sechs Personen, am geschlossenen Ort besagter Wohnung, der Zeitraum ist eng begrenzt. Mit den Auftretenden                                                               treffen Welten aufeinander.

 

Da ist der "Vollstrecker", ein mit seiner Alkoholsucht kämpfender Beamter, der sein Selbstbewusstsein aus der Tatsache bezieht, "der lange Arm des Gesetzes" zu sein.

Mitgebracht hat er den "Blaumann", einen Spediteur "orientalischer Herkunft", ein "Tschuschenbankert", wie man in Österreich die Fremden nennt, mit zugegebenermaßen nicht ganz weißer Weste.

Die Wohnungstür öffnete ein "Bub" vom Schlüsseldienst.

Er entpuppt sich als kapitalismuskritischer Student aus  gutbürgerlicher Familie.

 

Das sind die Herren, und dann gibt es noch die drei Damen.

 

Die Eigentümerin, eine promovierte Germanistin, deren Genie in der Wissenschaft noch nicht erkannt wurde, die ihr Talent jedoch nicht als Lehrerin oder Bibliothekarin verschwenden will. Sie wartet auf den ihr zustehenden Lorbeerkranz, bis dahin lebt sie von den Einnahmen ihres Mietshauses.

Dieses erbte sie natürlich. Von ihrer Oma. Diese fidele Dame  lebt als einhundertzwanzigjähriger Hausgeist immer noch in der Bibliothek. Mal als Schutz-, mal als Schreck-, mal als Familiengespenst (es gibt noch mehr Rollen, die sie spielt). Sie ist hängengeblieben im Gedankengut der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts und bringt deutlich zum Ausdruck, was sie von den modernen Zeiten hält.

Und, die eigentliche Hauptperson, die, deren Schicksal da in neunundvierzig Minuten verhandelt wird: die Mieterin.

Sie spricht immer von "wir", wenn sie aus der Vergangenheit erzählt, bzw. an diese denkt, in dieser lebt die demente Dame: "Da haben wir also wieder eine Zeitreise unter-nommen, diesmal siebeneinhalb Jahrzehnte zurück bis in unser erstes Lebensjahr. Verrückt und zugleich hoch-interessant."

 

Der "Paps" dieser Mieterin hat eine riesige Bibliothek angesammelt. Nach seinem Tod fehlten ihr die Mittel, um sie zu vervollständigen, blieb aber der Leidenschaft für Papier treu. Nun sind es halt Prospekte, kostenlose Zeitungen, wertloses Zeug, das sich überall hüfthoch stapelt. Dazwischen stellt sie gerne Kerzen auf...

 

Die Autorin verknüpft in ihrem außerordentlichen Debüt-roman die verschiedensten Themen.

Sie blickt in die Geschichte Österreichs, das sich stets als Opfer der Nazidiktatur inszenierte, so auch das Hausgespenst, das daran erinnert, wie schwer es war, das Ende der 1930er Jahre `erworbene´ Haus zu erhalten.

Sie schaut in die Familiengeschichten der Eigentümerin, die zwischen Habgier und schlechtem Gewissen schwankt, und die der Mieterin mit ihren extravaganten Eltern.

Die Wohnungsbaupraxis der Stadt Wien, die Spekulation mit Immobilien, also Realien, wird ebenso angesprochen wie die Gesetzesgrundlage, auf der Zwangsräumungen stattfinden.

Schließlich bringt der Student noch Ideen zu einem Gesell-schaftsmodell jenseits von Kapitalismus und Kommunismus ins Spiel, er wirft die Stichworte "Freigeld" und "Freiland" in die Runde. Diese sind nicht neu, führen aber zu einem großen Aufruhr unter den Beteiligten.

So sehr, dass Mordphantasien durch diverse Köpfe spuken:

 

"Wofür will dieser unbedarfte Ferienjobber sie eigentlich bestraft wissen? So sehr, wie sie unter ihrer Familie gelitten hat, kann sie ja wenigstens finanzielle Absicherung durch das Erbe erwarten. Das müsste dieses verwöhnte Buberl doch verstehen. So von Bourgeois zu Bourgeoise. Und die renitent demente Mieterin müsste ihr aus demselben Grund entgegen kommen. Die könnte doch einfach freiwillig abkratzen.

Da gibt´s so viele Möglichkeiten: ein richtiges Schlagerl, ein ausgewachsener Herzkasperl oder eine fulminante Lungen-embolie. Mit dem mutigen Biss ins Gras könnte ihr die alte Dame Dank erweisen dafür, dass sie ein Leben lang hier wohnen durfte. Andernfalls müsste die Vermieterin selbst zum Hackl greifen. Obwohl: Wenn dabei das Mieterinnenblut auf die Bücher spritzt? Das wäre nicht so gut. Dann bleibt eben nur das klassische Giftflascherl, dieses angeblich weiblichste aller Mordinstrumente."

 

Da steckt Sprengstoff drin!

 

Die Figuren grenzen an Karikaturen. Lisbeth Exner bewegt sich hier auf schmalem Grat, doch der Roman kippt weder ins Klischee- noch Phrasenhafte. Er ist eine konzentrierte, aberwitzige Gesellschaftsstudie, die ein dramatisches Ereignis in den Mittelpunkt stellt, und von diesem ausgehend weite Kreise zieht. Das Thema `Wohnen´ weitet sich zum Thema `Leben´, Individuen und Gesellschaft werden auf den Prüfstand gestellt. Die postum erlangte Erkenntnis des Gespenstes, dass es neben dem sich um Realbesitz drehenden Leben "so etwas wie ein geistiges Leben gibt" kommt spät - mögen die anderen Akteure sie noch vor ihrem Tod erlangen.

 

In ihrem Vorwort schreibt Elfriede Jelinek, in dieser Geschichte über den "Besitz" gebe es "lustige Sachen" zu lesen. Stimmt, wenn man `lustig´ zugleich als `tragisch´ liest, aber das muss eigentlich im Zusammenhang mit Elfriede Jelinek nicht extra erwähnt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

Lisbeth Exner: Realitätenhandlung -

Neunundvierzig Minuten  

Vorwort von Elfriede Jelinek

Elster & Salis, 2022, 144 Seiten