Theres Essmann - Dünnes Eis

"Schlag zwölf, als ihr einhundertstes Lebensjahr beginnt, liegt sie im Bett und schläft nicht". Es werden noch viele schlaflose Nächte folgen, in denen Marietta wach liegt, ihren Erinnerun-gen folgt, die Geschehnisse des Tages überdenkt, versucht, Ordnung in die vielen Gedanken zu bringen. Mit neunundneunzig ist sie geistig wach und noch nicht fertig mit ihrem                                                                Leben.

 

Wie häufig steht sie auf, geht zum großen Schreibtisch, dem "Wächter" ihres Lebens. In ihm bewahrt sie ihre Notizbücher und Fotos auf. Eine Schublade ist voll damit, "randvoll mit Leben. Fotos über Fotos, wahllos hineingeworfen. ... Wer wird sie überraschen, wem wird sie begegnen?"

 

Die Aufnahmen geben den Erinnerungen eine Richtung. Nach und nach entblättert sich so das Leben Mariettas. Ihre Kindheit in Königsberg, die Ferien im "Wunderland" des Hofes ihrer Großeltern. Ein Foto von Johann, "im Arm hält er stolz seinen Brummel. Wie hatte er sich einen Teddybären gewünscht, einen großen." Dieses Bild ist an Weihnachten 1943 aufgenommen, Johann ist fünf. Das nächste  Weih-nachtsfest wird er nicht mehr erleben, Marietta muss die Flucht in den Westen über das gefrorene Haff alleine antreten. "In der einen Hand den Koffer. In der anderen Hand eine Lücke. Johann."

 

Der Verlust des Sohnes und traumatische Erlebnisse vor und während der Flucht sind tief in Marietta eingegraben.

So tief, dass sie nicht einmal mit ihren späteren Ehemann Elias, einem Psychoanalytiker, darüber sprechen kann. 

 

Die Gegenwart tritt unerwartet und vehement in Mariettas späte Tage, als ein Kind, das offenbar in einem der neu erstellten Flüchtlingscontainer lebt, im Park der Senioren-residenz auftaucht. Er dürfte so alt sein wie Johann damals, sofort entsteht eine Verbindung zu dem Jungen: "Er passt genau in die Lücke in meinem Herzen."

 

Und dann taucht noch Julia auf, eine junge Volontärin der Regionalzeitung, die einen Bericht über die fast Hundert-jährige verfassen soll. Julia möchte Fotografin werden, bittet darum, die alte Frau aufnehmen zu dürfen. Marietta stimmt zu.

 

Während Mariettas Fotos Geschichten erzählen, hat Julia den Anspruch, zu "zeigen, was ich sehe. ... Ohne zu urteilen", ohne sich "ein Bildnis zu machen". Bei ihr fühlt sich Marietta ohne Schuld und ohne Scham, erlaubt ihr sogar, ihre "dunkle Stelle" zu fotografieren.

 

Eine dritte Art von fotografischer Dokumentation pflegt Mariettas Zimmernachbar, Herr Tacke. Ein Nazi, wie man munkelt, jedenfalls trägt er noch immer das unsägliche Bärtchen, ist unfreundlich und verschlossen, hält Menschen auf Distanz. In einer schwachen Stunde, und weil Marietta sich nicht abweisen lässt, erfährt sie von seinen Reisen. Alle großen deutschen Flüsse verfolgte er per Rad von der Quelle bis zur Mündung, die Reisen sind sorgfältig in Ordnern konserviert. So erfährt sie auch von der Schuld, die er mit sich herumträgt, für die er sich selbst bestraft, ein Leben lang.

 

Julia findet für Marietta die Geschichte des Jungen, der sie nun regelmäßig an ihrer Parkbank besucht, heraus. Er ist mit seinem Onkel aus Syrien geflohen, die Eltern wurden vor seinen Augen erschossen. Enis öffnet sich so weit, dass er seine Erlebnisse und Ängste in seinen Bildern darstellen kann - Marietta versteht es, diese Zeichen zu lesen. 

 

Um Schmerz und Schuld, helle und dunkle Geschichten, gefrorene Zeit, Sprechen oder Schreiben und Schweigen, um Risse und Lücken, und um die Möglichkeit, einen inneren Frieden zu finden, geht es in diesem sehr klug komponierten Roman. Die Themen Gewalt und Flucht, ob während des Zweiten Weltkrieges oder dem in Syrien, die daraus entstehenden, nie heilenden Wunden, tatsächliche oder gefühlte Schuld, die Versuche, vom dünnen Eis auf festen Boden zu gelangen - Theres Essmann webt die Geschichte eines hundert Jahre dauernden Lebens in die Geschehnisse der Gegenwart. Sie erzählt von den innersten Gefühlen ihrer Protagonistin, und davon, dass es lange dauern kann, bis ein Mensch bereit ist, sich den schmerzhaftesten Stunden seines Lebens zu stellen. Sie erzählt von den verschiedenen Formen und Versuchen, die vergehende Zeit in Bildern oder in (Tage)Büchern festzuhalten. 

 

Sie folgt dabei den sich einstellenden Erinnerungen Mariettas, diese springen zu verschiedenen Personen und Ereignissen, weilen in unterschiedlichen Zeiten. Das sich so langsam zusammensetzende Bild ist sehr berührend, erzählt vom zutiefst Menschlichen, von der Heilkraft der  Mitmenschlichkeit und auch der der Literatur. Die Autorin findet poetische Bilder, um ein Ereignis mit wenigen Worten eindrücklich darzustellen, wie z.B. "sie stand daneben, im gefrorenen Gras, war selbst ein erfrorener Halm, den die blinde Sense des Krieges zufällig stehen gelassen hatte".

 

"Das sagt einem keiner. Dass mit dem Altwerden die Konturen verschwimmen, zwischen dem, was da draußen tatsächlich ist, und dem, was du erinnerst oder du dir wünschst oder du nur geträumt hast. Alt und weise, das sagt sich so leicht. Dazu musst du mit so vielen vertrackten Widersprüchen klarkommen. Du sollst loslassen, was dich immer noch schmerzt. Und bist dabei verletzlicher denn je. Dein Herz hüpft vor Freude. Dein Herz läuft über vor Weh. Dazwischen liegt nur ein Flügelschlag. Du verkehrst mit den Toten, als säßen sie vor dir. Und kurz darauf geht dir ein Licht auf, eine Einsicht, auf die du dein Leben lang gewartet hast."

 

Theres Essmann gelingt es, all dieses so nah beieinander Liegende oder in sich Verschachtelte zu entwirren und aufzuzeichnen, ohne dabei etwas Ganzes in Einzelteile zu zerstückeln.

Schon in ihrem Debüt, der Novelle "Federico Temperini", lässt sie zwei Männer unterschiedlicher Generationen aufeinander treffen und sich ihrer Vergangenheit und Gegenwart stellen. Ein sehr schönes Buch, das durch verschiedene Tonlagen und eine raffinierte, indirekte Erzählweise heraussticht.

 

Der Roman "Dünnes Eis" ist jedoch stilistisch reifer, viel-schichtiger, weiträumiger, poetischer, durch und durch stimmig. Er fordert den Verstand und er geht zu Herzen, er wirkt nach, weil er so vieles anstößt. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Theres Essmann: Dünnes Eis

Dörlemann Verlag, 2023, 288 Seiten