Jenny Erpenbeck - Gehen, Ging, Gegangen

Im September 2012 macht sich eine Gruppe von 30 Flüchtlingen vor allem aus dem Iran von Würzburg aus auf den Weg nach Berlin. Sie gehen die rund 500 Kilometer zu Fuß, unterwegs schließen sich ihnen weitere Flüchtlinge an.

Sie möchten gegen die deutsche Asylpolitik protestieren, vor allem gegen Abschiebungen, Sammellager und Residenzpflicht. Sie stranden auf dem Berliner Oranienplatz, wo sich ein Zeltlager entwickelt, in dem immer mehr Menschen leben. Etwa 100 Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, um dort Schutz und ein neues Leben zu finden, leben dort bis zur Räumung des Platzes. Diese erfolgt endgültig im April 2014. Bis dahin gibt es Besetzungen diverser Gebäude, Hungerstreiks, Verhandlungen mit dem Senat, Umsiedlung der Flüchtlinge in Heime etc.

Mehr als anderthalb Jahre hoffen, bangen und kämpfen diese Menschen mit Unterstützung verschiedener Verbände, einzelner Politiker, ganz normaler Bürger. Erfolglos.

 

Das Camp auf dem Oranienplatz ist Ausgangspunkt des Romanes von Jenny Erpenbeck. Im Verlauf ihrer Geschichte zeichnet sie die verschiedenen Stationen des Protests, der Umzüge, der Versuche, Gehör zu finden, der Unsinnigkeiten des Asylrechts, der Verzweiflung der Flüchtlinge und der halbherzigen Beteuerungen der Politik nach. Sie hält sich dabei an die Chronologie der Ereignisse, schreibt jedoch keine Dokumentation, sondern eine Geschichte von eigener innerer Wahrheit.

 

Sie kürt den emeritierten Professor für Altgriechisch Richard zur ihrer Hauptperson. Er ist Witwer, hat keine Kinder, lebt ohne finanzielle oder gesundheitliche Sorgen in einem schönen großen Haus direkt an einem See am Stadtrand Berlins. Sein einziges Problem ist die Zeit. Wie sie füllen, nach einem Leben in Arbeit und mit ständigen Kontakten zu Kollegen und Studenten? Seine Bildung ist jetzt nur noch sein "Privateigentum."

 

Das Camp hat er gar nicht richtig wahrgenommen, er liest aber in der Zeitung von dem Hungerstreik, und er beginnt, sich für die Sache zu interessieren. Wie er das als Mensch der Bildung und des Wortes gewohnt ist, informiert er sich erstmal gründlich über Afrika. Vierundfünfzig Länder gibt es dort - das wusste er nicht. Wie heißt die Hauptstadt von Ghana oder Niger? Wo liegt Burkina Faso?

Er erinnert sich daran, dass er sich in den siebziger Jahren das Buch "Negerliteratur" gekauft hat - als Bewohner des ostdeutschen Staates lernte er damals Studenten aus Mosambik oder Angola kennen, der Kontinent blieb ihm trotzdem offensichtlich fremd.

Nun beginnt er, Verbindungslinien zum klassischen Bildungsgut zu ziehen, die Odyssee erscheint ihm plötzlich in einem neuen Licht, und auch manche Stellen der Bibel lesen sich nun anders. 

 

Richard will diese Männer kennen lernen. Er fährt zu einem Heim, in dem ein Teil der Flüchtlinge nach Räumung des Oranienplatzes untergekommen ist. Zuvor hat er Bücher gelesen, einen "Fragenkatalog für die Gespräche" entwickelt.

Muttersprache, Religion, Familie, Schule, Kleidung, Lieblingsspiel als Kind, gibt es noch Kontakt zur Familie, mit welchen Ziel sind Sie aufgebrochen? Und viele andere Fragen.

Die kann Richard nicht alle beim ersten Besuch stellen. Langsam tastet er sich heran, einige Männer sind auskunftsbereit, andere schweigen. Er fährt wieder und wieder dorthin, erwirbt sich das Vertrauen der Männer.

Er lernt Betreuer kennen, Wachpersonal, den Leiter des Heims. Eine Abgeordnete und viele gesetzliche Bestimmungen - auch hier muss er sich erstmal einlesen.

 

Er kann sich die afrikanischen Namen am Anfang nicht gut merken und gibt den Männern Namen, die er aus der Literatur kennt: Tristan, Apoll, der Blitzeschleuderer.

Damit schafft er eine gewisse Distanz zu den niederschmetternden Geschichten, die er hört, gleichzeitig holt er die Männer damit herüber in unsere westliche Kultur. Er ordnet sie nicht unter, er gibt ihnen einen Platz.

 

Mehr und mehr werden die Männer zu Menschen, die ihm helfen, es findet eine neue Ausbalancierung statt. Sei es bei Gartenarbeiten, sei es ein gemeinsam verbrachter heiliger Abend - immer mehr schälen sich die Menschen aus dem Oberbegriff  "Flüchtling" heraus.  

 

Und immer deutlicher wird, wie sehr die Männer unter der erzwungenen Tatenlosigkeit leiden. Sehr viele von ihnen wären ohne Zweifel in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, aber sie dürfen nicht. 

Für den pensionierten Beamten ist die freie Zeit nach einem langen Arbeitsleben wenigstens teilweise ein Geschenk,

für die Flüchtlinge ist sie eindeutig ein Fluch. Die allein mit Warten und Ungewissheit ausgefüllte Zeit zermürbt fast so sehr wie der Krieg, vor dem sie geflohen sind.

 

"Die Zeit macht etwas mit einem Menschen, weil ein Mensch keine Maschine ist, die man an- und ausschalten kann.

Die Zeit, in der ein Mensch nicht weiß, wie sein Leben ein Leben werden kann, füllt so einen Untätigen vom Kopf bis zu den Zehen."

 

Ende August 2014 spricht der Berliner Senat den Flüchtlingen das Aufenthaltsrecht in Berlin ab. Sie verlieren damit Obdach und finanzielle Zuwendungen.

Karon, Ali, Khalil, Zani, Yussuf, Abdusalam, Mohamed, Yaya, Rufu, Ithemba, Raschid und viele andere müssen gehen.

 

"Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wohin er gehen soll?"

 

Diese Frage steht auf einer Doppelseite des Buches, nichts anderes steht auf diesen Seiten.

 

Die Kirche nimmt viele Menschen auf, ebenso Privatleute, hier im Roman Richard. Und einige seiner Freunde.

Gelöst ist damit nichts. Dublin II, Vorrangregelung etc bestehen weiterhin.

 

"Das einzige, was der Senat für die Männer, die von jetzt an eigentlich überhaupt nicht mehr da sein dürften, noch immer bezahlt, ist der Deutschunterricht. Vor knapp fünf Monaten, als sie im Altersheim untergebracht waren, haben die Männer begonnen: Gehen, ging, gegangen.

Vor vier Monaten sind sie nach Spandau umgezogen, haben in der Zeit der Einzelfallgespräche etliche Unterrichtsstunden versäumt und dann wieder von vorn begonnen: Gehen, ging, gegangen."

 

Erpenbeck hat in ihrem Roman eine literarische Wirklichkeit aufgebaut, die auf der Realität fußt. Sie hat die Flüchtlinge und die bürgerliche Schicht des Landes zusammengebracht, was nicht ohne Konflikte und Irritationen ablief. Sie hat - und das ist das große Verdienst dieses Romans - ein paar Menschen aus einer immer größer werdenden Masse herausgelöst und ihnen Gesicht und Geschichte gegeben.

 

Ihr Roman endet mit einer sehr intensiven Szene: die Männer unterhalten sich über Richards verstorbene Frau.

 

"Damals, glaube ich, sagt Richard, ist mir klargeworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte.

So wie auf dem Meer?, fragt Khalil.

Ja, im Prinzip genauso wie auf dem Meer."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jenny Erpenbeck: Gehen, Ging, Gegangen

Kanus Verlag, 2015, 351 Seiten

Taschenbuch bei Penguin, 2017, 352 Seiten