Anna Enquist - Die Betäubung
Vier Teile umfasst der wie ein Musikstück durchkomponierte Roman der Pianistin und Psychoanalytikerin Anna Enquist.
"Exposition" (so das erste Kapitel) bedeutet "Summe aller Umgebungs-einflüsse", im medizinischen Bereich das Ausgesetztsein von Lebewesen gegenüber schädigenden Umwelt-einflüssen, die eine mögliche Ursache für Krankheiten sind.
Im zweiten Kapitel, der "Durchführung" wird die Geschichte entwickelt, Kapitel drei: "Reprise" (Wiederholung eines Teiles, wie man es aus der Musik kennt) spitzt die Ereignisse auf ein Ende hin zu, variiert dabei noch einmal bestimmte Aspekte um dann in letzten Teil "Coda" den Leser mit dem Ausgang der Geschichte zu konfrontieren. In der Musik ist Coda ein separater Teil, in der Psychologie ein Therapie-programm für Menschen, die ihr Selbstwertgefühl nur aus dem Verhältnis zu anderen Menschen beziehen.
Das liest sich hier vielleicht sehr trocken und eventuell abschreckend, ist aber hilfreich, um den Roman zu verstehen, weil ein Teil seiner Aussage und Faszination bereits in seinem Aufbau liegt.
Die Hauptpersonen des Buches sind Suzan, eine Anästhesistin und ihr Bruder Drik, ein Psychotherapeut.
Als Drik vier Jahre alt und Suzan mit sechs Monaten gerade abgestillt war, kam die Mutter bei einem Bergunfall ums Leben. Die Eltern hatten sich eine Woche Urlaub gegönnt, ohne Kinder - nun muss die Familie ohne Mutter weiterleben. Die Mutterrolle übernimmt Leida, die Zwillingsschwester des Vaters, die ihren Beruf als Kranken-schwester aufgibt, um für die Kinder und ihren Bruder da zu sein.
Die Berufswahl der Geschwister zeigt, welche Wege der Schmerzbewältigung die beiden suchen: betäuben und vergessen oder dem Schmerz auf den Grund gehen, ihn wieder durchlaufen und vielleicht damit leben können.
Aktuell leiden beide am Tod Hannas, Driks Frau. Mit seinen knapp fünfzig Jahren ist er Witwer geworden, Hanna starb qualvoll an einer langwierigen Krankheit. Die beiden haben keine Kinder, für beide war, bzw ist, Suzans und Peters Tochter (Suzans Ehemann ist ebenfalls Psychiater) Roos wie ein eigenes Kind. Und für die neunzehnjährige Ross ist Hannas Tod ein sehr schwerer Schlag und Verlust, der auch die Beziehung zur Mutter belastet: warum hat die Ärztin Suzan Hanna nicht retten können?
Knall auf Fall zieht Roos zuhause aus in eine eigene kleine Wohnung, sie braucht Abstand.
Eine weitere wichtige Person ist Allard Schuurman, er macht eine Lehranalyse bei Drik, was für angehende Psychiater obligatorisch ist. Er ist der erste Patient, den Drik aufnimmt, nachdem er wieder zu arbeiten beginnt.
Von Anfang an ist das Verhältnis Therapeut-Patient sehr schwierig. Drik bekommt nicht das Heft in die Hand, immer wieder lässt er sich führen, anstatt selbst zu führen.
Allard leidet mit seinen fast dreißig Jahren immer noch darunter, dass sein Vater die Familie verließ als er fünf war, bis heute fühlt er sich minderwertig. Er denkt, zu schlecht gewesen zu sein, um seinen Vater zum Bleiben bewegen zu können.
Eine weitere Person also, die schwer an einem Verlust trägt und Probleme mit dem Selbstwertgefühl hat.
Allard bricht ganz überraschend seine Weiterbildung zum Psychiater ab, er sieht keinen Sinn mehr darin.
Die Lehranalyse setzt er jedoch fort. Er entscheidet sich, Anästhesist zu werden, Suzan wird seine Supervisorin.
Die beiden kommen gut zurecht miteinander (die fachlich sehr kompetente und geduldige Suzan kommt mit jeden zurecht), Allard fühlt sich an- und ernstgenommen.
Als Allard seine Psychatrieausbildung abbricht, denk Drik:
"Allard braucht sich nicht mehr mit seiner Angst auseinanderzusetzten, sondern kann sie mit Betäubungs-techniken schön fest zudecken. Er kann sich mit Dingen wie Atemwegssicherung und Transfusionsmethodik befassen und muss nie mehr über Gefühle nachdenken."
Allard und Suzan fühlen sich sehr zueinander hingezogen und brechen bald ein Tabu.
Der Einzige, der die ganze Geschichte kennt, ist Drik.
Allard weiß nicht, dass Suzan Driks Schwester und Roos´ Mutter ist, Susan weiß nicht, dass Allard Roos´ Freund ist,
nur Drik weiß, dass Allard und Suzan ein Verhältnis haben.
Als Peter und Roos davon erfahren, bricht die ganze Familie auseinander, denn in ihren Augen ist auch Drik ein Verräter, er achtete das ärztliche Schweigegebot höher als das Gut der Freundschaft.
Drik schließt seine Praxis, zieht aufs Land und verfällt dem Alkohol. Roos bricht den Kontakt zu ihrer Mutter ab, Peter geht in ein Krankenhaus nach Afrika.
Der letzte Absatz des Buches lautet:
"Sie steckt das Handy in die Hosentasche, verlässt erhobenen Hauptes den Umkleideraum und begibt sich zur Übergabe-sitzung unter ihre Kollegen. Lächelnd setzt sie sich neben Hettie. Gleich wird sie einen Mann in Schlaf versetzten, so tief, dass er nicht mitbekommen wird, wenn der Neuro-chirurg ihm den Schädel aufsägt. Sie wird dafür sorgen, dass er keine Schmerzen hat, aber auf dem Höhepunkt der Prozedur wird sie die Schlafmittelzufuhr stoppen und den Mann allmählich zu Bewusstsein kommen lassen. Langsam wird er aus der Tiefe der Betäubung auftauchen, in eine unbegreifliche, grausame Welt."
So Suzans Gedanken nach dem Telefongespräch mit Drik. Dieser hatte gesagt:
"Ich bin noch da,...ich bin nicht weg. Ich habe es nicht richtig gemacht. Fehler begangen. Du hattest darunter zu leiden. Früher schon. Deshalb rufe ich dich an. So darf es nicht mehr weitergehen, zwischen uns. Ich habe etwas getrunken, aber ich meine, was ich sage."
Enquist legt in ihrer Geschichte viele Spuren, was man oft erst erkennt, wenn ein Motiv an anderer Stelle wieder auftaucht. Wie beispielsweise das Thema Selbstmord.
Oder das Sorgen für den Bruder, die Suche nach einem Ersatzvater sowie Eigenständigkeit versus Teamgeist.
Dieser Aufbau schafft ein sehr dichtes Geflecht an Gedanken und führt tief ins Thema hinein. Ein Thema, das in keinem Menschenleben fehlt, denn ein Leben ohne Verluste gibt es nicht.
Die Operation am offenen Schädel bei Bewusstsein am Ende des Buches zeigt, wie einschneidend, mutig und risikoreich ein Verzicht auf Betäubung ist.
Doch zugleich ist das ein hoffnungsvolles Ende, denn zumindest Suzan und Drik gehen wieder aufeinander zu.
Anna Anquist: Die Betäubung
Übersetzt von Hanni Ehlers
Luchterhand Verlag, 2012, 318 Seiten
Taschenbuch bei btb, 2014, 320 Seiten
(Originalausgabe 2011)