Anslavs Eglitis - Schwäbisches Capriccio

Peteris Drusts, aus Riga stammend, ist auf dem Weg in die Schweiz. Er hatte seine Heimat verlassen müssen, war in Berlin ausgebombt worden und möchte nun, Anfang des Jahres 1945, endlich wieder in Frieden und Freiheit leben. Nach einer mehrtägigen Fahrt plagt ihn jedoch die Sehnsucht nach einem Bett so sehr, dass er irgendwo in Süddeutschland den Zug verlässt und mit einer kleinen Regionalbahn weiterfährt. Der Zufall führt ihn in das fiktive, auf der Schwäbischen Alb gelegene Städtchen Pfifferlingen.

 

Als er ankommt ist es dunkel. Eine Person, die neben ihm im Zug saß, begleitet ihn zum Gasthaus "Lamm", ohne Orts-kenntnisse und Taschenlampe hätte er niemals dorthin gefunden. Hilfsbereit sind sie, die Pfifferlinger, wenn auch etwas misstrauisch Fremden gegenüber.

Drusts will nur eine Nacht bleiben und sich richtig aus-schlafen. Als er erwacht, ist der Zug bereits weg, am nächsten Tag hindert ihn etwas anderes an der Weiterreise. Schließlich bleibt er vier Jahre, denn eins stellt er immer wieder fest:

er weiß zwar nicht, was er in diesem abgelegenen und verschlafenen Nest soll, aber es lebt sich gut hier.

 

Er erschleicht sich mit einer nur kleinen Lüge Lebensmittel-karten, ein Zimmer bei einer Witwe und er gibt vor zu arbeiten. Dies ist Voraussetzung für ein unbehelligtes Leben in einer Stadt bzw. einem Landstrich, in dem nur der zählt, der "schafft". 

 

In zwanzig Episoden sehr unterschiedlicher Länge beschreibt Anslavs Eglitis (1906-1993), der von 1944-49 mit seiner Frau einige Jahre in Tailfingen auf der Alb lebte, unterschiedlichste Begebenheiten, die die Bewohner und die Mentalität der Pfifferlinger porträtieren. 

 

In einigen nimmt Drusts breiten Raum ein, so in der Erzählung " Melusine Frick". Diese elfengleiche junge Frau ist die Tochter des örtlichen Metzgers und sie gefällt Drusts außerordentlich gut. Die köstliche Beschreibung der Angebeteten klingt so:

 

"Melusines dichtes Haar war geradezu pechschwarz und mit einem Glanz wie frische Rinderleber. Diese Haarpracht ... umrahmte ein feines Gesicht, das rein und glatt wie eine Perle war. Vermutlich war es nie den Strahlen der Sonne ausgesetzt, denn es war so weiß, dass weder die Marmor-theke noch das teuerste und feinste Schweineschmalz mit ihm wetteifern konnte, obwohl es blitze wie der reine Schnee auf den Gipfeln. In Melusines vornehmem Gesicht zeichneten sich sanfte Lippen ab, zart und rosig wie das delikateste Filet. ... Sie (ihre Augen) waren tiefbraun mit einem ungewöhnlichen Ton von der Farbe dunkler Veilchen. Nur die allerfeinsten und edelsten Räuchersalamis hatten eine ähnliche Farbe aufzuweisen."

 

In diesen fleischlastigen Vergleichen dürfte sich die Sehn-sucht des Herzens mit der des Magens paaren - Melusine ist jedoch so unerreichbar wie Filet und Salami -  die Passage zeigt außerdem trefflich den Humor des Erzählers. 

 

Der Mann von Welt, der all die braven Handwerker, Bauern und Arbeiter in den Wirkfabriken zunächst nicht ganz ernst nimmt, lernt ihre Bauernschläue kennen. Auch die des Bürgermeisters.

 

Als eines Morgens einige Parteiführer vorfahren und den Bürgermeister auffordern, alle Brücken, Fabriken und Häuser zu zerstören, "um dem Feind nur verbrannte Erde und qualmende Ruinen zu hinterlassen", fasst der Bürger-meister einige Beschlüsse, die genau dies verhindern. Man kann nicht sagen, er hätte den Befehl verweigert, aber er gestaltet die Ausführung so eigenwillig, dass nichts und niemand zu Schaden kommt. 

Pfifferlingen kapituliert bereits am "24. April im Jahre 1945", mit Hilfe von Kirschwasser und einigen fetten Gänsen.

Und was passiert am 8.Mai? Die Pfifferlinger "lebten weiter, als sei nichts geschehen."

 

Anslavs Eglitis schwankt zwischen Ungläubigkeit und Unver-ständnis, Bewunderung und Respekt vor diesen gradlinigen Leuten, die nur in seltenen Fällen den vorgezeichneten Weg verlassen. Dieses Schwanken drückt sich aus in Geschichten, die von einem doppelbödigen Humor leben und im Spannungsfeld zwischen Komik und Tragik angesiedelt sind. Egal, ob Drusts direkt in eine Sache involviert ist oder nicht, der Erzähler beleuchtet mit jeder Episode eine Eigenschaft von mehreren Seiten. Sei es die sprichwörtliche Sparsamkeit der Schwaben, die Heiligkeit eines Befehls oder der Wunsch, auf der sozialen Leiter nach oben zu klettern, die Darstellung ist stets hintergründig und macht aus dem Städtchen nicht nur den eigentlichen Protagonisten, es macht aus dem Roman, der räumlich so begrenzt ist, ein Welttheater. 

 

Dass dieser Roman, der 1951 in New York, wohin Eglitis und seine Frau 1949 emigrierten, erschien, nun auf Deutsch gelesen werden kann, verdankt sich einem wunderbaren Zufall. Eine "pensionierte Bibliothekarin, die in der lettischen Gemeinde in New York einen Büchertisch betrieb",  ließ dem Übersetzer Berthold Forssman ein Bücherpaket zukommen, in dem sich unter anderem dieser Roman befand. Berthold Forssman, aus dessen Feder die feine Übersetzung stammt, erzählt diese kleine Episode in dem ebenfalls von ihm verfassten, informativen Nachwort.

Ein wahrhaft glücklicher Zufall!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anslavs Eglitis: Schwäbisches Capriccio

Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman

Guggolz Verlag, 2024, 314 Seiten

(Originalausgabe 1951)