Michel Decar - Kapitulation

"Jahrelang hatte ich Gedichte geschrie-ben, die niemanden interessiert haben. Jahrelang hatte ich geschrieben und geschrieben, ohne einen Cent mit meinen Gedichten zu verdienen, und jetzt plötzlich - wie aus dem Nichts  - hatte ich 7.500 Euro dafür erhalten, gestiftet von der Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg." Dass der Preis ausgerechnet von einer Sparkasse kommt, empfindet László Carassin als "Gemeinheit". Aber immerhin, Geld ist Geld, und er kann es brauchen. Es gibt ihm Gelegenheit, noch einmal ganz neu anzufangen: "Ich wollte mein altes Leben ausziehen, so wie man einen Wollpullover auszieht."

 

László ist nun dreißig, in eine nervenaufreibende Dauer-on-off-Beziehung mit Mercedes verstrickt, in prekären Arbeits-verhältnissen beschäftigt und Berlin findet er schrecklich. Also kauft er sich von dem Preisgeld ein Ticket nach Brno. Mitreisenden stellt er sich als Ex-Schriftsteller vor, denn diese Phase hat er hinter sich. Vielleicht sollte er weiter-fahren und am Schwarzen Meer einen Minigolfplatz aufmachen? Er mietet sich erstmal im Grandhotel ein, Geld hat er ja genug, und überlegt, was er nun anfangen möchte mit seiner neuen Freiheit. Der Entschluss ist bald gefasst: er will nach Zánka am Balaton zu Onkel Bernát. 

 

Diesem erzählt er, dass er nicht nur "am Ende", sondern "bereits über das Ende hinausgeschossen, ... postfinal" sei. László liebt die dramatischen Formulierungen, bei ihm gibt es kein lauwarm. Er stürzt sich mit Haut und Haar in jede Situation, ist zunächst immer glücklich und überzeugt, nun genau das gefunden zu haben, was er sich ein Leben lang gewünscht hat, bis er merkt, dass es ganz und gar nicht so ist. Auch Zanká am Balaton nicht. 

Seinen "Ruhestand" kann er nur begrenzt genießen, zu viel geht ihm durch den Kopf: Erinnerungen an Mercedes, die Erkenntnis, dass das Geld vielleicht doch nicht für zwanzig oder dreißig Jahre reichen wird, die Überlegung, eine Bank zu überfallen (als Rache für den beleidigend schmalen Preis der Sparkasse). Und dann pflanzt ihm Onkel Bernát eine neue Idee in den Kopf: er soll "das 1-Million-Euro-Gedicht" schreiben. 

 

So wird aus dem Ex-Schriftsteller ein ehemaliger Ex-Schrift-steller, der Schauplatz verlegt sich nach Nikosia, Zanká ist einfach zu trist und verregnet.

Nikosia ist das Gegenteil, hier wird er das "1-Milliarde-Euro-Gedicht" schreiben!

 

Man ahnt es, auch Nikosia ist nicht der letzte Ort, an dem László leben möchte.

"Nikosia ist völlig unmöglich. Unmöglich zum Leben, unmöglich zum Atmen, eine regelrechte Schnapsidee ist es gewesen, hier Gedichte zu schreiben. Dieses Wüstenklima hat mich in drei Wochen mehr ruiniert als das schreckliche Berlin in drei Jahren."

Er verfällt der unvergleichlichen Tigris und folgt ihr spontan nach Odessa. Sie hat eine tolle Wohnung, eine Kreditkarte, liebt den Gott Eros ebenso wie László und eine Weile ist er im siebten Himmel. Eine Weile.

 

Das Leben, Lieben und Leiden, die Suche nach sich selbst und vielleicht sogar dem Sinn des Lebens (Ruhestand? Dichten? Möglichst viele Drinks zu sich nehmen?) des sympathischen Taugenichts beschreibt der 1987 geborene Autor hinreißend komisch. 

 

Einige Kostproben der Gedichte Lászlós lassen erahnen, warum er Schwierigkeiten damit hat, das ultimative Gedicht zu schreiben. Einer seiner Schwerpunkte war ein langer Zyklus über seinen Skoda, die Gedichte tragen Titel wie George W. Bush besucht den Flugzeugträger USS Nightingale oder Easyjetflug 4614

Vielleicht wäre das Minigolfbusiness doch besser?

 

Michel Decar hinterfragt mit seinem Anti-Helden, der auf alle Konventionen pfeift, auf eine sehr witzig-gewitzte Weise das kapitalistische System, denn es hält ihn trotz allem in seinen Fängen. Es bremst auch Mercedes, seinen Freund und Mitbewohner in Berlin Diamantis, Onkel Bernát, Tigris, selbst die Leute von der Sparkasse - wären sie sonst so langweilig und uninspiriert?

 

 

Der Roman ist ein beherzter, niemals bitterer Blick auf den jungen Mann, der sich ganz klassisch-romantisch auf die Suche nach sich selbst macht. Der sich ausprobiert, der begeisterungsfähig ist, gleichzeitig glücklich und unglücklich sein kann, das System mit seinen eigenen Waffen schlagen möchte. 

Er ist ein im bestgemeinten Sinne unterhaltsamer Roman, sprühend vor Pointen und witzigen Dialogen, einem flüssigen und griffigen Sound und einem Ende, das die Frage aufwirft: worin besteht die Kapitulation?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Michel Decar: Kapitulation

März Verlag, 2023, 217 Seiten