Arad Dabiri - Drama

"Die Wahrheit aber. Die Essenz. Das alles ist kein Kitsch. Es ist mein Leben. Das Drama, es war immer nur mein Leben. Ungeschönt, da, auf der Bühne. In Wien, dem größten Theater. Und was jetzt? Tatsächlich auf alles scheißen. Auf jede einzelne Rolle. Jede einzelne Zeile des Texts. Auf das ganze Schau-spiel. Weg von diesen Vergleichen.

Raus aus diesen Einschränkungen.

Ich müsste einzig und allein leben, am Leben bleiben, ja, überleben. An das Wie, an das Wo, vielleicht sollte ich daran gar nicht denken. Nein, ich müsste einfach nur überleben."

 

Diese Gedanken stehen ganz am Ende eines Romans, der keinen passenderen Titel haben könnte. Arad Dabiri, geb. 1997 in Wien, beschreibt in seinem Debütroman das ganze Drama des Lebens. Es entfaltet sich vor den Augen der Leser:innen, die diesem Stück in drei Akten zuschauen, in es eintauchen, verändert daraus auftauchen.

 

Der Roman spielt an einem einzigen Tag. Der Ich-Erzähler, ein Student der Medizin, Ende zwanzig, fliegt von seinem Wahl-Wohnort Berlin in die Stadt, in der er aufwuchs, nach Wien. Er hat einen Brief von seinem alten Freund Hubert erhalten, in dem dieser ihn etwas mysteriös für einen ganz speziellen Abend, zu einem "großen Anlass", in sein Elternhaus in Hietzing, einer sehr reichen Gegend, einlädt. Und das, obwohl der Erzähler seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Hubert hat. Weder zu ihm, noch zu den anderen aus dem alten Kreis. Er verließ Wien, ohne sich von irgend-jemandem zu verabschieden, sein Weggehen glich einer Flucht.

 

Flucht vor dieser Stadt, in der er sich nicht entwickeln konnte? Vor der Familie, die zu hohe Erwartungen an ihn stellte? Flucht vor dem latenten Rassismus, der ihm, dem Kind einer persischen Familie, entgegenschlug?

 

Während des Fluges erinnert sich der Erzähler an verlorene Lieben, an seinen Jugendfreund Yasin, die Zukunftsträume seiner Generation, seine eigene Entwicklung. 

 

Und er erinnert sich an ein ganz einschneidendes Erlebnis, das vielleicht ausschlaggebend für sein Verlassen Wiens war. Jedenfalls war es verantwortlich dafür, dass die Gruppe aus Freunden, die sich heute Abend bei Hubert treffen wird, auseinanderfiel.

Es war auf einer Wanderung, die er und seine Freundin Bona mit Flora und Dion, sowie Hubert unternahmen. Der Erzähler fand einen verletzten Vogel im Gebüsch. Dion hob ihn auf und brach ihm auf der Stelle das Genick. Er sagt, er habe ihn erlöst.

"Wir standen also urplötzlich vor Gericht. ... Dion und Hubert auf der einen Seite. Vertraten die Sterbehilfe für den Vogel. Der Rest auf der anderen Seite, der Seite des Lebens. Gelassenheit und Trauer nebeneinander. Dazwischen ich, die Wut. ... Ich unterstellte Dion, einen Mord begangen zu haben. So einfach. so hart."

 

Im zweiten Teil oder Akt umschlingen sich die Erinnerungen an Wien mit jenen an die Jugend, Freunde, durchfeierte Nächte, Rausch und Kater. Er trifft seine ehemals beste Freundin Marie, sein "weibliches Pendant". Später Bona, Dion, den immer noch zutiefst bitteren Alkoholiker und schlechten Schriftsteller, sowie Yves, auch er ein verlorenes Kind reicher Eltern, das zu früh mit Kokain in Berührung kam, wie Hubert.

Man spricht über früher, eine gemeinsame Gegenwart gibt es nicht.

 

Der Tag steuert auf den Abend zu. Zu Beginn schien sich der Roman um einen nicht mehr jungen, aber auch noch nicht gefestigten Protagonisten zu drehen, der ein extrem zwie-spältiges Verhältnis zu seiner Heimatstadt hat, worin sich seine innere Heimatlosigkeit und Gespaltenheit spiegelt. 

Doch es wird immer deutlicher, dass sich das Drama auf das Treffen der ehemaligen Freunde bei Hubert hin zuspitzt und es um etwas viel Größeres als das individuelle Befinden des Erzählers geht.

 

Dieser denkt, er fahre zur "Schlachtbank", die "Gleise sind das Laufband, auf dem ich direkt in die Klingen fahre. Die Kreis-säge erwähnte ich bereits." Er meint, auf seinen "qualvollen Tod" zuzusteuern, trotzdem ergibt er sich der "sich anbahn-enden Katastrophe". 

 

Der dritte Teil ist in Zwischenkapitel aufgeteilt, die Über-schriften lauten "Die Irritation", "Die Konfrontation", "Die Initiation oder Die Rotation", "Die Eskalation", "Die Ovation", "Die Emanzipation", schließlich "Die letzte Szene". 

 

Die Ereignisse überschlagen sich, es explodiert eine Bombe nach der anderen, das ganze Kapitel ist Gegenwart pur.

In diese ragt die Episode des getöteten Vogels hinein, das Drama des Lebens entzündet sich vollends an der Frage, wie mit dem Tod umzugehen sei. Hier geht es nicht mehr um einen Vogel mit gebrochenem Flügel, sondern um Menschen, die keine Hoffnung mehr haben. Angesiedelt in der Stadt, die nicht nur mit ihrer Kunst und Architektur die Menschen anzieht, sondern auch mit ihrem morbiden Charme. 

 

Nicht zuletzt diesem wollte und will der Erzähler entfliehen.

Er will überleben, leben, ohne Einschränkungen, ohne Vergleiche.

 

 

Der Roman ist ein sehr starkes Debüt eines sehr jungen Schriftstellers!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Arad Dabiri: Drama

Septime Verlag, 2023, 240 Seiten