Jean d´Amerique - Zerrissene Sonne

In diesem extrem energiegeladenen Roman erzählt die zwölfjährige Tête Fêlée, was `Spinnerin´ bedeutet, aus ihrem Leben in der Cité de Dieu, einem Slum in Port-au-Prince, Haiti. Die `Stadt Gottes´ gleicht eher einer Hölle der Gewalt, in der es nicht möglich ist, so etwas wie eine Kindheit zu verbringen.
Ihre Mutter arbeitet als Prostituierte. Sie hat drei "Dauerauf-träge" ergattert, die ihr das Überleben sichern. Tête Fêlée sieht diesen Job ganz und gar realistisch:
"Gestern Abend war meine Mutter wieder bei ihm, um ein seit fünf Jahren betriebenes Spiel mitzumachen: sich allen erogenen Anforderungen von Monsieur wie ein Hündin zu Füßen zu werfen."
Sie kann ihr Leben nur mit sehr viel Alkohol ertragen.
Der Mann, den sie Papa nennt, ist nicht ihr Vater. Von ihrem Vater weiß sie nur eins: er ist nicht da. Papa ist hingegen zu präsent:
"Papa breitet sich als wutschnaubende Welle unterm Dach aus. ... Als Liebes-Sarkophag fühlt sich Papa nur wirklich lebendig, wenn er zuhaut. Zuhauen ... Ganz egal, wo er hinhaut. Faustpoetik. Ich schlage, also bin ich."
Die Behausung der drei:
"Nach dem stürmischen Aufstand der Gemäuer (dem Erdbe-ben von 2010) wurde die nächtliche Schlafstätte auf nacktem Boden zur unvermeidlichen Aufenthaltszone eines ganz Volks."
Gibt es einen vernünftigen Grund, zur Schule zu gehen?
"Mich bilden? Ich bin doch bestens im Bilde über das Leid meiner Welt, ihre dekadenten Allüren, ihre obszönen Buhlereien, die bis zum letzten menschlichen Schutzwall vordringen. Aus allein zwei Gründen komme ich hierher:
um der Lüge einer titelverkaufenden Gesellschaft etwas entgegenzuhalten, und dann vor allem deswegen, weil ich dem Mondmädchen meines Lebens auflauere, der ich meine Erregung verdanke."
Mama, Papa und Silence, das Mondmädchen: in diesem Dreieck bewegt sich Tête Fêlée, sie sind die Koordinaten ihrer Welt.
In Silence, die Tochter ihres Lehrers, ist sie unsterblich verliebt. Immer wieder versucht sie, ihrem Mondmädchen einen Brief zu schreiben, mit keinem ist sie zufrieden, sie probiert es wieder.
In ihnen drückt Tête Fêlée ihre Liebe aus und reflektiert ihre Situation. Sie sind erstaunlich reif und bedacht, sie lesen sich nicht wie Briefe einer Zwölfjährigen. Aber Tête Fêlée musste die Kindheit zu schnell hinter sich lassen, zu früh wurde sie Opfer von Gewalt, Zeugin von Verbrechen und zur Hand-langerin Papas. Dieser ist der "beste Söldner" des "Metall-Engels", Chef der alles beherrschenden Bande.
Tête Fêlée ist noch sehr sehr jung, als sie selbst zur Pistole greift:
"Zwei Schüsse, in denen meine Rache aufglüht. ... Es ist das erste Mal, dass meine Hand so eine Katastrophe unter-schreibt: Leib durchbohren und Atemluft kappen."
Warum diese Tat, wofür die Rache? Dafür, "dass der Lehrer sein Glied in meinen zwölf Jahre alten Mund bugsiert hat..."
Nach dieser Tat verlassen Silence und ihre Mutter das Land.
In kurzen Zeitabständen verliert Tête Fêlée Mutter und Papa durch Mord. Kann ein Mensch einsamer sein?
Ein Satz zieht sich durch den ganzen Roman, dem Debüt des 1994 geborenen Lyrikers, Dramatikers und Rappers Jean
d´Amerique: "Du wirst allein sein in der großen Nacht".
Die Prophezeiung hört Tête Fêlée öfter als ihr lieber ist. Sie scheint sich zu erfüllen.
Wäre da nicht der unglaubliche Kampfgeist des Mädchens, das gegen Korruption, Polizeigewalt, die Regierung und manchmal auch gegen die Sonne wütet. Sie kämpft gegen
die Elemente, denn auch das Wasser spielt eine tragisch-tragende Rolle in diesem Drama. Sie beschließt, nicht in dem Sumpf ihres (fast) verlorenen Landes unterzugehen:
"Die Zeit muss eiligst überbrückt werden, mich selbst muss ich mit Gewalt beseitigen: Ich vergifte mich, um jemand zu sein, inmitten dieser Bestien, die sich selbst über ihr Naturell belügen. Abhauen aus dieser missratenen Welt, den Wunden entkommen, die die Zwischenräume des Traums markieren, zumindest ein Schrei im Schlachthaus sein: Ich werde nicht unter diesem blutigen Menschenvertrag verrecken."
Die vielen Zitate lassen den unkonventionellen Stil Jean
d´Ameriques erkennen. Es gibt hier keine Hurenromantik, keine Beschönigung der Armut ("Wir sind unter den Lebensschrott gemengte Körper..."). Es herrschen Wut, Wut und Wut. Diese kleidet er nicht selten in Poesie:
"Hier bin ich, verstümmelte Blume auf der Suche nach einer Zuflucht in finsterer Erde. Und was habe ich inmitten dieses überfließenden Wortbachs, dieser meine Sprachgrenzen sprengenden Buchstabenflut noch auszuspucken?
Ein Alphabet aus Vulkanen, aus roten Wörtern, aus Wörtern, die durch das Feuer der Gewalt verletzt wurden."
In diesem Roman vereinen sich der Lyriker, der Dramatiker und der Rapper. Jean d´Amerique schreibt genau so, wie Tête Fêlée es ausdrückt: mit "roten Wörtern ... die durch das Feuer der Gewalt verletzt wurden."
Dass er diese Wörter, die einen Charakter zeichnen und eine Gesellschaft abbilden in eine `rote Poesie´ verwandelt, ist die Stärke dieses sehr sehr eindrücklichen Buches.
Jean d´Amerique: Zerrissene Sonne
Aus dem Französischen übertragen und mit einem Vorwort versehen von Rike Bolte
litradukt Verlag, 2024, 114 Seiten
(Originalausgabe 2021)