Bruce Chatwin - Der Vizekönig von Ouidah

"Das Wohnhaus auf der Plantage der Coutinhos hatte Fenster mit rauten-förmigen Sprossen und rosa verputzte Mauern. Grüne Seidenvorhänge raschelten in Zimmern, deren Wände ein Blumenmuster hatten. Auf der Veranda gab es Vogelhäuser mit Singdrosseln und im Speisezimmer Vasen aus blau glasiertem Porzellan, vergoldete Säulen und lapislazulifarbene Holztäfelungen. Der Duft von Rosen und Lilien wehte durch den Garten. Kolibris saugten an scharlachrotem Geißblatt. Morpho-Schmetterlinge flatterten über die Prunkwinden, und nach Anbruch der Dunkelheit sangen schwarze Chorknaben, in tabakfarbenen Samthosen und Spitzenjabots, auf einer chinesischen Loggia Pergolesis Stabat Mater.

Und Francicso Manoel glaubte, auf das Paradies gestoßen zu sein." 

 

Ist er nicht, dazu ist die Welt zu vielfältig, wechselhaft und launisch. Francisco, dessen Mutter verhungerte, um den Sohn zu retten, die eines Tages zur Zeit einer großen Dürre leblos in der Hängematte lag und Francisco mit seinem Stiefvater zurückließ, ist ein Mann mit vielen Fähigkeiten. Ohne die wäre er im Sertao, im Nordosten Brasiliens, hoffnungslos verloren. Er versucht sich als Viehtreiber, Händler, Handlanger, er ist schlau und gewinnt das Vertrauen des reichen Coutinho, lebt eine Weile auf dessen Ranch, bevor das Schicksal ihn weitertreibt.

 

Mit siebenundzwanzig Jahren landet er in Ouidah, im Königreich Dahomey an der Westküste Afrikas - das war 1812 - dem heutigen Benin. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1975 hieß das Land Dahomey, war französische Kolonie, die Amtssprache ist bis heute Französisch, gesprochen werden aber noch 53 weitere Sprachen. Das kleine Land verfügt über Regen-und Trockenwälder, Savanne, eine Einkommensquelle bilden auch die fruchtbaren Lagunen.

 

Hier, in diesem verwirrend-vielfältigen Land fasst Francisco Fuß, er steigt auf zum größten Sklavenhändler. Er liefert seine "Ware" nach Bahia, sein Geschäftspartner dort ist Joaquim Coutinho, bis der zum anständigen Geschäftsmann mutiert und mit seinem alten Gefährten bricht.

 

Zu diesem Zeitpunkt hat Dom Francisco eine Achterbahnfahrt des Lebens hinter sich, die vom Partner der Franzosen, der Engländer, des Königs, des Herrschers über ein Heer von Frauen, Söhnen und Töchtern zum Gefangenen, der in Indigo gebadet wird, weil man Weiße nicht töten darf, reicht. Der mehrmals knapp dem Tod entrinnt, obwohl er versucht hat das Land zu zivilisieren, der aber auch immer mehr von der Lebensart und den diversen Religionen mit ihren Menschenopfern, Fetischen und Riten der Landesbevölkerung annimmt.

 

Der eines Tages spürt, wie die Besitzgier in ihm erwacht, der nach zwei bis drei Nächten Benutzung die jungen Frauen mit kleinen Geschenken an ihre Familien zurückschickt, der im Luxus schwelgt (um 1830 ist er der reichste Mann in Westafrika), verrät und verraten wird, der noch zu Lebzeiten zu einer Legende wird, der der Magie erliegt, verblendet und entrückt auf den Boden der Tatsachen geworfen wird, der bettelarm stirbt, in einem Rumfass in der Erde verscharrt wird. Das war 1857.

 

Der großartige Schriftsteller Chatwin, dessen zahlreiche Reisen Hintergrund und Ausgangspunkt seiner Romane sind, hat mit diesem Dom Francisco da Silva eine Figur geschaffen, die die Lebensgeschichte und Legende aufnimmt und daraus ein einzigartig buntes Bild kreiert.

 

Chatwin war 1971 zum ersten Mal in Dahomey, da hieß das Land noch so und war französisch, 1977, zum Zeitpunkt seines zweiten Besuches, war es zu Benin geworden, die Fetischbilder von Ouidah durch Lenin-Bilder ausgetauscht. 

Bei dieser Reise geriet er in einen Putsch, landete als vermeintlicher Söldner im Gefängnis, erlebte zwei Tage, die er "lieber vergessen" möchte und kehrte nie mehr nach Westafrika zurück. Aber das "Skelett der Geschichte" stand, die Eindrücke waren lebhaft genug, um zusammen mit dem ganzen Vorwissen ein "Werk der Imagination" zu schreiben.

 

Herausgekommen ist ein  Buch, das seinesgleichen sucht. 

Die neu edierte Ausgabe mit Illustrationen von Sylvie Ringer, die die Gedanken Chatwins mit zeichnerischen Mitteln fortspinnt, ist ein Werk ganz aus einem Guss geworden. Ihre Palmen sind nicht nur Bäume, ein Boot ist ein Bote, Steinmassive werden zu Kathedralen, Kakteen zu umarmenden Schutzgeistern, das Meer kommt dunkelgrün den Häusern bedrohlich nah - die Natur steht immer im Konflikt mit der Zivilisation. Aus ihren Bildern spricht ganz viel Magie, ganz viel Leben und auch der Tod fehlt nicht.

 

Chatwin lässt seine Geschichte im Jahr 1974 beginnen. 

Die riesige Familie feiert den Gedenktag von Franciscos Tod, zum einhundertsiebzehnten Mal. Er führt damit in die Welt ein, in der das Leben des Sklavenhändlers stattfand und das auch so lange Zeit nach seinem Tod noch sehr archaische Züge trägt. Die Familie sucht noch immer nach Papieren, die den sagenhaften Reichtum zurückbringen sollen, aus dem Radio kreischt eine Stimme "Der Marxismus-Leninismus ist unser einziger philosophischer Wegweiser!"

 

Mit Mama Wéwé, die sich noch an Dom Francisco erinnert (sie wurde 1853 geboren) geht er im zweiten Kapitel einen Schritt zurück und damit einen Schritt näher an den Helden der Geschichte heran.

Das dritte Kapitel beginnt mit den Worten:

"Der Mann, der 1812 in Ouidah an Land ging, war siebenund-zwanzig Jahre früher in der Nähe von Jaicos im Sertao, dem trockenen buschigen Weideland im Nordosten Brasiliens, geboren worden."

Damit ist der Leser ganz bei Francisco angekommen - und damit in einer überbordend vielfältigen Welt, geschaffen aus Fakten und sehr viel Phantasie.

 

Im letzten, sehr kurzen Kapitel, erinnert sich Mama Wéwé auf dem Totenbett an den Mann mit den roten Haaren, es schließt sich der Kreis. Nachdem sie durch eine Tür geschritten ist, betritt sie einen hohen blauen Raum, ein Mann erhebt sich vom Kopfende des Tisches, streckt ihr beide Hände entgegen und sagt: "Ich habe lange gewartet."

Und der Präsident brüllt aus dem Radio: Macht dem Volk! Bereit für die Revolution! Und der Kampf geht weiter!

 

Er ist ein ganz anderer geworden und genau der gleiche geblieben.

 

 

 

 

 

 

 

Bruce Chatwin: Der Vizekönig von Ouidah

Illustriert von Sylvie Ringer

Übersetzt von Anna Kamp

Edition Büchergilde, 2015, 190 Seiten

(Deutsche Erstausgabe 2003, Englisches Original 1980)