Aysegül Celik - Papierschiffchen in der Wüste
Roman in Erzählungen
Dieser poetische, im Südosten der Türkei spielende Roman, besteht aus einem Zyklus von 10 Erzählungen. In dieser heißen und trockenen Gegend begegnen sich mehrere Ethnien, Sprachen, Kulturen und Religionen. Aysegül Celik gibt Jesidinnen und Christinnen, Frauen und Männern eine Stimme - ihr Werk widmet sich all jenen, die auf der Suche nach einer besseren Welt sind. Eine solche ist möglich!
Aysegül Celik, geb. 1968, ist eine vielseitige Künstlerin, die Romane, Erzählungen, Gedichte und Artikel schreibt, für Film und Fernsehen arbeitet, Hörspiele verfasst und in Ankara Mythologie und Weltliteratur unterrichtet. Seit jeher setzt sie sich für "Entrechtete und Unterdrückte" ein. Deren Herkunft steht dabei nicht im Vordergrund.
Anstelle eines Vorworts beginnt der Roman mit einem Anruf der Lesenden:
"Du, Leser, der Du Dein Ohr unbekümmert der Stimme des Papiers leihst, Wisse, dass eine Frau diese Zeilen schrieb.
Die Zeichen, die der Stift auf die Seiten gesetzt, die Du in den Händen hältst, stammen aus der hohlen Hand einer aus Leibeskräften schreienden Frau.
Wo das Rätsel des Lesens und Schreibens den Scheichs, den geistigen Führern, vorbehalten ist, bin ich schuldig, weil ich zum Stift gegriffen. Und das nicht zum ersten Mal. ..."
Das Schreiben ist ein Akt der Selbstermächtigung, auch davon handelt dieses Buch.
Die erste Geschichte wird erzählt von Afsun. Sie ist ein Mädchen, das zusammen mit seiner älteren Schwester von der Mutter heimlich im Schreiben unterrichtet worden war. Als Neunjährige muss sie erleben, wie ihre nur drei Jahre ältere Schwester Sitare an einen fremden Mann verheiratet wird. Die Jesidin an einen Moslem. Der Mutter bricht dies das Herz, sie geht und kommt nicht zurück. Übergibt aber vor ihrem Verschwinden ein kleines Notizbuch an Afsun, es enthält eine einzige Geschichte, diese ist ein Juwel, der in tausend Facetten schillert.
Die Geschichte der Mutter erzählt einen Mythos, ein Märchen, sie ist aber genauso in der Realität und in den Sternen zu Hause. Sie lebt ein fast eigenständiges Leben, verwandelt sich, spricht mit der Stimme ihrer Schöpferin. Afsun vernimmt sie, zugleich schreibt sie sie. Der Roman ist im weiteren Sinne die Entstehungsgeschichte dieses Notiz-buches, er ist die bildhafte Entfaltung von miteinander verwobenen Ideen, Gedanken, Träumen, Erfahrungen.
Von Poesie, Fantasie und Realität.
Eine Geschichte erzählt von der Kindbraut Sitare, die nun den türkischen Namen Yildiz trägt. Sie widmet sich vollständig der Weberei, sie webt um ihr Leben. In ihren Kelims entwirft sie eine eigenständige Welt, in der die Freiheit siegt.
Eine Erzählung berichtet davon, wie die Sprache entstand, und auch die babylonische Sprachenverwirrung, die die Menschen bis heute voneinander trennt. Hier taucht Afsuns Mutter wieder auf, sie ist eine der wenigen Menschen, die "eine seltene Sprache (sprachen), die aus den Stimmen des Flusses und der Liebe geflochten war."
Die Wörter sind hier lebendige Gestalten, die sich am Duft des Basilikums erfreuen, sich schlafen legen und warten, bis sie aufgeweckt werden.
Andere Erzählungen berichten, wie Zeit und Tod in die Welt kamen. Wie die Liebe den Tod besiegen kann, selbst der Engel Azrael, eine Variante des Erzengels Gabriel, kommt nicht dagegen an.
Der Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn ist die Erzählung "Die Geschichte der Erde" gewidmet. Die sehr junge Mary muss für einen Mord ihres Onkels Jakob büßen. Die Sühne besteht darin, dem Clan des Ermordeten einen Sohn zu gebären. Mary kommt ins Zelt Ahmeds und seiner Frau Havva, arbeitet als Dienerin und erfüllt schließlich ihre Aufgabe.
Nur die Erinnerung an vor langer Zeit vernommene Märchen lässt sie die Einsamkeit und den Hass des Clans überstehen. Und die Erinnerung an eine Reise als Vierjährige mit ihren Eltern nach Haifa, ans Meer.
Dieses schwebt als Symbol für Freiheit über ihrem Leben, sie wird den Traum davon an ihren Sohn weitergeben, der als Sohn Havvas gilt und den sie verlässt, als er sieben ist.
"Es reicht, wenn er nur ein einziges Mal das Meer erblickt. ... Beim ersten Wispern wird er daran denken, dass er zur Welt gekommen ist, um in Freiheit zu leben."
Die durch die Wüste segelnden Papierschiffe sind das Trans-portmittel der Träume, die Wirklichkeit werden können. Denn:
"Ich werde ein neues Leben anfangen. Ein Leben, das nicht auf einer im Vorhinein geregelten Ordnung gründet, sondern das einzig dem Gewissen und der Hoffnung geweiht ist. Ich weiß, dass ich es kann. ... Denn nicht Gott erschuf die Welt, sondern der Mensch."
Marys Sohn bricht auf. Er ist nicht der Einzige, andere tun es ihm gleich. In den letzten beiden Geschichten führt Aysegül Celik die verschiedenen Fäden zusammen.
Der Roman endet im "Tollen Wald", einem von Menschen geschaffenen Wald in der Wüste. Er entstand aus dem Glauben, dass eine bessere Welt möglich ist, in ihm finden sich verschiedene Romanfiguren wieder. Und er ist das Kernstück des Notizbuches, das Afsun von ihrer Mutter bekam.
Afsun nimmt die große Aufgabe an, sie gibt ein Versprechen:
"Ich schreibe eure Geschichte auf, aber in der Stimme meiner Mutter. Auf diese Weise kann ich die Geschichte zu Ende bringen, die sie einst begonnen hat."
Damit schließt sich der Kreis, der nebenbei elegant die lineare Zeitvorstellung aushebelt.
Aysegül Celiks in vielen Farben schillernder Roman ist wie ein aus vielen Fäden geknüpfter Teppich. Sie nimmt Aspekte des Glaubens und der Traditionen auf, verweist auf die Überschneidungen der Kulturen. Sie greift auf Mythen und Märchen zurück, schreibt sie fort. Mit ihren Figuren zeichnet sie individuelle Charaktere, erzählt mit deren Hoffnungen und Träumen aber auch den uralten menschlichen Traum von der Freiheit.
Dieser erscheint vor dem Hintergrund von Unterdrückung und Versklavung umso wirkmächtiger.
Auch, oder vielleicht weil er an den sich überlappenden Rändern von Poesie, Mythos und Realität angesiedelt ist.
Aysegül Celik: Papierschiffchen in der Wüste - Roman in Erzählungen
Aus dem Türkischen und mit einem Nachwort von
Sabine Adatepe
Edition Converso, 2022, 144 Seiten
(Originalausgabe 2010)