Víctor Català - Ein Film (3000 Meter)

Dieser Roman erschien 1926, geschrie-ben wurde er von der Schriftstellerin Caterina Albert i Paradís (1869-1966). Sie veröffentlichte unter einem männlichen Pseudonym, wie nicht wenige ihrer Kolleginnen. Nun kann die fulminante Geschichte um das Waisenkind Nonat Ventura erstmals auf Deutsch gelesen werden - was für eine Entdeckung!

 

 

Der Titel verweist auf die filmreife Inszenierung dieser Lebensgeschichte, die zu großen Teilen in Barcelona spielt.

Und zwar nicht in der bürgerlichen Gesellschaftsschicht, in der Romane zu dieser Zeit häufig angesiedelt sind, sondern im Milieu der Handwerker, Tagelöhner und Diebe.

 

Zu einem Meisterdieb entwickelt sich der gut aussehende, mit besten Manieren ausgestattete und mit einer natürlichen Eleganz gesegnete Nonat. Sein gefälliges Erscheinungsbild ist ein wichtiges Kapital, denn wer würde einem so schönen Mann zutrauen, ein ausgekochter Satansbraten zu sein?  

 

Aufgewachsen ist Nonat im Waisenhaus. Aus diesem befreite ihn ein Schlosser, der ihn in die Lehre nahm und wie einen Sohn behandelte. Doch die unbekannte Herkunft bleibt ein Leben lang ein schmerzender Stachel in Nonats Herz. 

 

"Immer wieder dasselbe! Alle hochwohlgeboren, alle nobler Abstammung außer ihm! Und er mit dem ewigen Defekt seiner unbekannten Herkunft, dem Makel in seinem Namen, seinem Blut, seiner Seele, seiner sozialen Stellung! Ohne sich dagegen wehren zu können, hatte er sich immer, schon seit jeher, für das Resultat eine Fehltritts gehalten, vielleicht eines Dienstmädchens, vielleicht einer ... Wenn jemand fragte, wie vorhin diese Dame: Wer ist das?, gab es für jeden eine Antwort, außer für ihn. Alle außer ihm hatten einen Vater im Rücken, alle außer ihm besaßen Wurzeln und eine Position, die sie bedenkenlos preisgeben konnten. Wollte in seinem Fall jemand die Wahrheit aussprechen, klänge das absonderlich: Ein Schlosser ist das! Ein Waisenhausbalg!"

 

Er ist ein ausgezeichneter Handwerker, der, nachdem er seinen Lehrherrn verlassen und in einer größeren Werkstatt angefangen hat, schnell zum Vorarbeiter aufsteigt und sich schließlich selbständig macht. Er ist überall beliebt, jede Tür steht ihm offen - doch im Innersten ist er überzeugt, von allerbester Abstammung zu sein. Demnach stünde ihm ein sorgenfreies Leben in Luxus zu, vor allem aber müsste er ein hohes Ansehen genießen. Nicht das Ansehen, das man sich erarbeiten muss, sondern das, das angeboren sein muss.

So wittert er "vorsätzlichen Betrug", er spürt "unbekannte Elemente, die sich ... verschworen hatten, ... um ihn grund-sätzlich zu vernichten und das zu zerstören, was er so klar in sich fühlte: die Überzeugung, besonderer Abstammung zu sein."

 

Nun denn, wenn man ihm das vorenthält, was ihm zusteht, muss er es sich nehmen. Er entpuppt sich als Naturtalent.

"Ohne Vorsatz oder Planung, ohne vorab die Möglichkeiten auszuloten, schritt er immer spontan zu Tat, wie aus einem vollkommen natürlichen Impuls heraus, und agierte mit so perfekter Ruhe und Unbefangenheit, als wäre es das Selbst-verständlichste und Normalste von der Welt."

Er widmet sich seiner Tätigkeit mit der "Virtuosität und Intuition eines Berufenen."

 

Die Autorin stellt ihren Helden ganz in den Mittelpunkt. Als Leser:in sieht man die Welt, in der er lebt, durch die er sich so sicher und ohne Zweifel bewegt, durch seine Augen. 

Doch ihm zur Seite bzw um ihn herum gestaltet sie eine beachtliche Anzahl an Nebenfiguren, die ebenfalls ganz genau beschrieben werden. 

Angefangen bei Maria, einer sehr geschäftstüchtigen Frau, die ihn fand und im Waisenhaus ablieferte, und die die Einzige ist, die seine wahre Geschichte kennt, sie ihm jedoch verschweigt, über ihren Mann Jepet, der kein großes Licht ist. Sie fährt fort mit Peroi, der Nonat eine Arbeitsstelle verschaffte und ihn in Barcelona einführte - Gelegenheit, nicht nur die faszinierende Stadt zu beschreiben, sondern auch die Bedingungen, unter denen in Werkstätten gearbeitet wird. Die Unterkunft bei Perois Tante und Cousine lässt einen Blick in die Welt der Frauen zu, in diese begibt sich Víctor Catalá auch, indem er die Familie des Vorarbeiters Rovira beschreibt. Sie beginnt sehr romantisch und endet außer-ordentlich tragisch, gibt wie nebenbei Einblicke in die Bräuche und Sorgen einer Familie der unteren Mittelschicht - die Unterschicht ist nur ein Schritt entfernt.

 

Schillernd bunt wird es, als Nonat in die Welt der Diebe abtaucht, und man nebst weitern Figuren Rattengesicht, dem Valencianer oder der trägen Amàlia begegnet. In die Welt der Oberen begibt er sich, wenn er Oper und Theater besucht, oder mit sehnsüchtigen Blicken der Kutsche mit der dicken Konsulin folgt, die stets von einem jungen Mann auf einem Pferd begleitet wird. Ein Gefühl sagt ihm, dass dieser den Platz einnimmt, der ihm gebührt.....

 

Die Autorin ist eine Meisterin in der Beschreibung von Personen. Hier lernt man Pepita kennen:

"Roviras Frau war schmal, nicht sehr groß und strohblond, fast wie ein Albino. Sie hatte einen kleinen spitzen Fisch-mund, große vorstehende Zähne, einen käsigen Teint und Glubschaugen mit rosigen Lidern, rötlichen Augäpfeln und langen farblosen Wimpern, die ihren Blick vollständig verschleierten. Da sie außerdem kaum Busen und Hüften hatte, lebte sie, und mit ihr ihre ganze Familie, in dem Wahn, mit ihrem Figürchen vermittle sie einen hochvornehmen, äußerst aristokratischen Eindruck."

 

Nicht zuletzt diese stets von Spott durchzogenen  Beschrei-bungen machen nebst der bunten und immer wieder über-raschenden Handlung einen guten Teil des großen Lesevergnügens aus.

Faszinierend ist auch, wie sie nach und nach die Fäden zwischen den Figuren verknüpft und so viele viele kleine Geschichten zu einer großen Erzählung zusammenfügt.  

Die Autorin verzichtet völlig auf moralische Urteile, ihr geht es darum, Nonats Leben in Szene zu setzen.

Dabei entsteht auch das bewegte Bild einer Großstadt in den 1920er Jahren, die weit mehr als Kulisse ist. Die Stadt gleicht einem großen Becken, in dem selbst Haifische manchmal gefressen werden.

 

Caterina Albert i Paradís gilt als Mitbegründerin der Katalanischen Moderne. Sie war eine vielfältige Autorin, die neben Romanen auch Gedichte und Erzählungen schrieb.

"Ein Film" ist ihr zweiter Roman, er wurde zu einem Welt-erfolg. Mit Petra Zickmanns hervorragender Übersetzung ist er nun, nach fast 100 Jahren, endlich auf Deutsch zu lesen. Erschienen im "Iberischen Panorama", einer der beiden Schwerpunkte des Kupido-Verlags. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Víctor Català (Caterina Albert i Paradís):

Ein Film (3000 Meter)

Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann

Kupido Verlag, 2024, 448 Seiten

(Originalausgabe 1926)