Leonora Carrington - Die Windsbraut

Bizarre Geschichten

Die Geschichten, verfasst zwischen 1937 und den 1970er Jahren, sind nicht nur bizarr, sie sind geheimnisvoll, verstörend, gespickt mit britischem Humor. Sie überwinden die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Mensch und Pflanze. Sie zeigen starke und rebellische Frauen, speisen sich aus der keltischen Kultur, vereinen aber auch Aspekte aus vielen anderen Quellen.

 

Diese unglaublichen Geschichten wurden verfasst von einer Frau, der ein ganz anderer Lebensweg zugedacht war. Sie stammt aus bestem Haus, ihre Eltern gehörten der britischen Großbourgeoisie an. 1917 geboren, wird sie mit siebzehn Jahren offiziell bei Hof vorgestellt, ihre Mutter träumt von einer Heirat mit einem Mitglied der Königsfamilie.

Doch Leonora hat andere Pläne: sie möchte Malerin werden. 

Da sie im Lauf ihres Lebens von mehreren Schulen geflogen war und immer wieder ihre Durchsetzungskraft bewiesen hatte, erlaubt ihr Vater die Teilnahme an Malunterricht.

 

Dieser Unterricht hat keinerlei Einfluss auf ihren Stil, sie malt wild und frei, assoziativ und fantastisch. Kein Wunder, dass die Begegnung mit dem Surrealismus 1936 eine wegweisende wird. Sofort ist sie fasziniert. Hier wird das westliche Weltbild hinterfragt, dem auch sie kritisch gegenübersteht.

 

Märchen, keltische Sagen, Mythen, die ihr von ihrer irischen Mutter und Kindermädchen erzählt worden waren, schlugen Wurzeln in ihr. Im Lauf ihres Lebens kommen das Studium der Kabbala, des tibetanischen Totenbuchs, der altägypti-schen Mythologie, Buddhismus und weiteren, der westlichen Tradition fern liegenden Denkweisen, hinzu. Als "die größte Offenbarung" ihres Lebens bezeichnet sie das Buch "The White Goddess" von Robert Graves, das sie Ende der 1940er Jahre liest. Es beschäftigt sich mit den "mächtigen weiblichen Gottheiten" der keltischen Mythologie. 

 

1936 lernt Leonora Carrington in London den Maler Max Ernst kennen. Sie verlieben sich ineinander, leben für mehrere Jahre zusammen, zunächst in Paris, dann auf dem Land in Südfrankreich. Bis zum Ausbruch des Krieges, der Verhaftung Ernsts und der Flucht Leonoras nach Amerika, erlebt sie dort eine sehr kreative Zeit. Sie malt, sie schreibt.

 

Circa die Hälfte der dreiundzwanzig in diesem Buch versammelten Erzählungen entstanden zwischen 1938 und der Flucht im Juni 1940. 

 

Gleich in der ersten Geschichte, die präzise am 1. Mai 1940 spielt und den Titel "Die Debütantin" trägt, beweist sie ihr Können. Rasant und mit überraschenden Wendungen erzählt Leonora Carrington von einer jungen Frau, die keine Lust hat, zu ihrem Debütantinnenball zu gehen. Da sie dies bei einem Zoobesuch einer Hyäne mitteilt, die sehr gerne einen Ball besuchen würde, beschließen die beiden, dass die Hyäne hingeht. Die Verkleidung ist kein Problem, aber das Gesicht? Hierfür wird kurzerhand das Dienstmädchen getötet, um ihr das Gesicht "herunterzureißen". Es passt perfekt. An eines hatten die beiden nicht gedacht: den Geruch des Tieres. Dieser verrät schließlich den Rollen-tausch. Die Geschichte endet mit einem Sprung der Hyäne aus dem Fenster, zuvor fraß sie noch das Gesicht des Dienst-mädchens auf.

 

Die Protagonistin ist eine junge Frau, die sich gegen die gesellschaftlichen Erwartungen wehrt, ganz offensichtlich die Autorin selbst. Die Verwandlung vom Tier zum Menschen gelingt hier noch nicht, dies ändert sich in den folgenden Erzählungen.

 

Häufig tauchen Pferde auf, aber auch Vögel, Ratten und Katzen, Hühner, Insekten und weitere Tiere - keines ist ein einfaches Tier. Ständig kommt es zu Verwandlungen, zum Überschreiten der Grenzen. Auch Pflanzen sind keine sess-haften Gewächse, manches Dickicht greift in die Handlung einer Geschichte ein, in Wäldern vollziehen sich die unglaub-lichsten Dinge. Auch die Grenze zwischen Leben und Tod ist aufgehoben.

 

Die Heldinnen kommen mit dem Rad angerauscht, auf fliegenden Pferden, sie widersetzen sich den Unterweisungen von Priestern oder Gouvernanten, sie folgen unerschrocken ihren eigenen Vorstellungen.

 

Ganz eigen ist auch die Sprache Carringtons. So liebt sie beispielsweise ungewöhnliche Vergleiche, die häufig von kulinarischer Art sind:

 

"Er läutete nach dem Hausdiener, einem aufgedunsenen jungen Mann, der aussah wie ein schönes, molliges Hühn-chen, das gerade lange genug in einer aromatischen Brühe gelegen hat und auf den Punkt gar ist."

Oder:

"Thibaut ... hatte eine Haut, die so goldfarben war wie ein in einem vorzüglichen alten Likör konservierter Kinderleich-nam."

 

In den späteren, ab 1941 in New York, bzw. ab 1942 in Mexiko entstandenen Erzählungen, schimmern an diversen Stellen Carringtons Einstellungen zur modernen, kapitalistischen Welt durch, oder auch ihre kritische Haltung der christlichen Kirche gegenüber:

 

"Der Ort war in den alten Zeiten am Ende der christlichen Ära anscheinend einmal so etwas wie eine Kirche gewesen:

ein Ort also, wo düstere Riten abgehalten wurden und die Gläubigen zusammensanken, um den Vorträgen eines Priesters zu lauschen, während sie über ihren Gott (jetzt tot) nachsannen, einen bedauernswerten Menschen, den man auf entsetzliche Weise an ein Holzgestell genagelt hatte und der dort in offensichtlicher Todesqual vor sich hin siechte. Ein interessantes Beispiel für die Mentalität unserer Vorfahren, dass sie solch ein grausiges Bild verehrten!"

 

Nachdem sie sich in Mexiko niedergelassen hatte, beschäftigt sich Leonora Carrington mit der Mythologie dieses Landes.

Ihr Denken wird immer vielfältiger, ihre Texte weiträumiger.

Sich durch das gesamte Werk ziehende Elemente sind die genaue Beschreibung von Farbschattierungen oder Stoffen, sehr sinnlich und greifbar wird die Textur, auch die des Essens. Die Zubereitung von Nahrung und auch das Essen selbst, sind bei Carrington verbunden mit der Schöpferkraft des Weiblichen. 

 

Dankenswerter Weise sind dem Buch einige Abbildungen ihrer Bilder beigefügt. Sie sind alle in harmonischen Farben, mit feinstem Pinselstrich und im Detail realistisch gemalt. Die Kompositionen sprengen jedoch die Realität und zeigen  die Fantasie der Malerin in der Malerei wie in der Literatur.

Menschliche Tiere, tierische Menschen, völlig verschobene Größenordnungen, teuflische Gestalten, häufig in kutten-artigen Gewändern, Labyrinthe und durchsichtige Luftwesen bevölkern die Gemälde, die zeigen, dass Leonora Carrington die Techniken der Alten Meister beherrscht. 

 

Die meisten Erzählungen dieses Bandes erscheinen hier zum ersten Mal auf Deutsch. Nun kann entdeckt werden, dass die Malerin und Schriftstellerin weit mehr als die Muse der Surrealisten war. Bis zu ihrem Tod 2011 arbeitet sie, 2005 erlebt sie noch eine große Ausstellung mit ihren Werken, sowie die ihres Mannes Imre Weisz und ihrer Söhne Pablo und Gabriel. 

 

Das profunde Nachwort von Heribert Becker ist eine wunder-bare Einführung in Leonora Carringtons Werk.

Die biografischen Details habe ich diesem entnommen, sie zeigen sehr gut die Verflechtung von Leben und Werk, von der momentanen Lebenssituation und  Beschäftigung auf die so außergewöhnlichen Erzählungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leonora Carrington: Die Windsbraut - Bizarre Geschichten

Herausgegeben, aus dem Französischen, Englischen und Spanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Heribert Becker

Mit einem Vorwort von André Breton

Edition Nautilus, 2024, 256 Seiten

(Neuauflage der Erstausgabe von 2009, Originaltexte 1938- ca. 1980)