J.L. Carr - Ein Monat auf dem Land

J.L. Carr (1912-1994) nimmt den Leser mit aufs Land, in ein Dorf namens Oxgodby im Norden Englands. Dorthin fährt sein Protagonist Tom Birkin im Sommer 1920, um in der dortigen Kirche ein mittelalterliches Gemälde freizulegen und zu restaurieren.

Es ist sein erster Auftrag, den er selbständig ausführt und er wird ihn mit Bravour erledigen.

 

 

Birkin ist fünfundzwanzig Jahre alt und hat die Hölle des Krieges in Flandern überlebt. Körperlich weitgehend unversehrt, aber von einem heftigen Gesichtszucken geplagt, zudem von seiner Frau Vinny verlassen, sucht er in der Abgeschiedenheit auch das Vergessen. Er hofft auf eine Heilung durch die Kraft der Zeit.

 

Birkin wird gleich bei der Ankunft in Oxgodby als Künstler identifiziert: man kennt die Leute, die hier aussteigen und die, die man nicht kennt, werden erwartet.

Freundlich begrüßt vom Stationsvorsteher Mr. Ellerbeck, macht er sich gleich auf den Weg in die Kirche. Dort begrüßt ihn der Dorfpfarrer Keach, ein paar Jahre älter als Birkin und ziemlich missgelaunt. Er hat überhaupt kein Interesse daran, dass das Gemälde freigelegt wird, die bunten Bilder lenken nur seine Gemeinde vom Wort Gottes ab.

Doch eine Wohltäterin hat testamentarisch verfügt, dass die Wandbilder wieder im alten Glanz erstrahlen sollen, daran kann auch Keach nichts ändern.

 

Eine andere Verfügung von Ms. Hebron war das Auffinden eines Grabes einer ihrer Vorfahren (gestorben 1373), der außerhalb des Friedhofes bestattet worden war. Diese

Arbeit erledigt Moon, ein Mann mit dem Birkin schnell Freundschaft schließt. Moon lebt in einem Zelt und vertraut Birkin bald an, dass er mitnichten nach dem Grab sucht, sondern erkannt hat, dass auf dem Gelände, der "magischen Wiese", eine uralte Kapelle stand. Seine Bemühungen um den alten Hebron sind nur Vorwand, eine echte Entdeckung zu machen und damit einen ersten Schritt in die universitäre Welt der Archäologie zu tun.

 

Von Anfang an ist klar, dass Birkin, der in der Ich-Form erzählt, aus der Rückschau des Alters auf jene Zeit in Oxgodby zurückblickt. Und dass sie eine sehr glückliche Zeit in seinem Leben war, betont er auch immer wieder.

Wenngleich sie einen der schlimmsten Tage seines Lebens enthält: er hatte sich in Alice Keach, die Frau des Pfarrers, verliebt. Und sie sich in ihn und hätte er nur an einem bestimmten Punkt den Arm um sie gelegt, hätte sein Leben eine andere Richtung genommen. Aber er steht nur da, reglos, und sie verlässt sein Turmzimmer und er weiß,

dass er sie nie wieder sehen wird.

 

Doch das ist jetzt weit vorgegriffen.

Kurz nach seiner Ankunft lernt er Kathy Ellerbeck kennen, ein resolutes Mädchen von vierzehn Jahren, das kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie besucht ihn in der Kirche und schaut, was er macht. Er wird jeden Sonntag bei der Familie Ellerbeck verbringen, die Einladungen zum Essen schonen sein schmales Budget und er wird warmherzig aufgenommen.

 

Aus einer Begleitung von Kathy zur Sonntagsschule ergibt sich, dass er dort Lehrer wird. Ungefragt wird verfügt, dass

er sich auch gut zum Schiedsrichter beim Kricket eignet und sogar beim Predigen einspringen kann (muss).

Mr. Birkin wird sofort ins Dorfleben mit einbezogen, er ist hilfsbereit und macht das gerne.

 

Doch sechs Tage der Woche gehören dem Gemälde in der Kirche. Um es freizulegen braucht es mehr als handwerklich-technisches Geschick. Vor allem muss der Restaurator verstehen, wie die Menschen im Mittelalter gelebt haben.

Er versetzt sich in ihre Denkweise hinein, deutet aus Kleidung, Körperhaltung und Gesichtsausdruck oder den Ort, an dem sie abgebildet sind, ihren Stand, ihr Aufgabe

und ihre Aussage. Vieles ist nach einem festgelegten Schema gestaltet, aber Birkin erkennt, dass er ein echtes Meisterwerk vor sich hat.

 

"Am Ende des zweiten Tags trat ein edler Kopf zutage. ...Meiner Meinung nach hätten sich sogar die italienischen Meister noch etwas von diesem Kopf abschauen können.

Das war kein Christus aus dem Katalog, unerträglich blass und ätherisch. Das hier war ein frostiger Vertreter der harten Linie. Gerechtigkeit ja, Gerechtigkeit würde er erteilen.

Aber keine Gnade. ... Das hier war der Oxgodby-Christus, unnachgiebig, nein, mehr noch - bedrohlich."

 

Als er das ganze Gemälde gereinigt hat, ist er hingerissen.

"Es war schlicht atemberaubend. (Jedenfalls raubte es mir den Atem.) Ein gigantischer Wasserfall aus Farben, das erhabene Himmelsblau vermischte sich weiter unten schäumend mit den turbulenten Rottönen; wie jedes große Meisterwerk erschlug es den Betrachter in seiner Gesamtheit, ehe es ihn mit den Einzelheiten entzückte. ...

Gibt es irgendwo sonst etwas Vergleichbares? Etwas von derselben Meisterschaft? Nein, sagte ich."

 

Der außergewöhnlichen Schönheit des Gemäldes steht die Schönheit von Alice Keach zur Seite.

"Ich fühlte mich augenblicklich an ein Botticelli-Gemälde erinnert - nicht an die "Venus", sondern an die "Primavera". ...  Ich hatte genügend Gemälde in meinem Leben gesehen, um wahre Schönheit zu erkennen, aber niemals hätte ich damit gerechnet, ihr an diesem abgelegenen Ort zu begegnen. ...  Man stelle sich vor - der ganze Stolz der Uffizien spazierte einfach so in der Fremde herum, in -

Gott stehe uns bei - Oxgodby!"

 

Die Qualität des Romanes liegt neben der Bildlichkeit seiner Beschreibungen in der wunderbaren Charakterzeichnung aller Personen, die ihn bevölkern.

Carr legt bei allen großen Wert auf eine ganz genaue und individuelle Darstellung ihres Wesens.

 

Die Art Kathys kommt treffend zum Ausdruck, als sie nach einem Besuch bei der kranken Emily sagt:

"Sie weiß, dass sie stirbt, nicht wahr? Sie kommen doch zum Tee mit uns zurück, ja? Mam rechnet fest mit Ihnen."

 

Oder der häufig ironische Moon, der ebenfalls in Flandern war und sich als "Überlebenden" bezeichnet - Birkin weiß, was das alles impliziert. Als die beiden Männer zusammen graben sagt er:

"Hier geht es darum nachzuvollziehen, wo die Leute im Laufe der Jahrhunderte ihren Kram haben fallen lassen. Nun kommen Sie schon, sehen Sie nicht diesen Kleinpächter vor Ihrem geistigen Auge, der mit einem Bündel Holz auf dem Nachhauseweg ist, innehält und sich ein bisschen umblickt? Und schauen Sie nur! Diese Hand voll Erde etwas weiter unten, die der Bruder des Verstorbenen in die Grube gestreut hat? Jemand muss ihn geliebt haben. Wer, wenn nicht Sie,

die Sie all die Wochen da oben mit ihnen gelebt haben, könnte sich in das Denken der mittelalterlichen Menschen hineinversetzen?"

Birkin oben auf der Leiter bei seinem Gemälde, Moon unten in seinem Erdloch und den alten Steinen - beide sind Überlebende auf der Suche nach Schönheit.

 

Auch Mr. und Mrs. Keach oder Mr. und Mrs. Ellerbeck, der brummige Mossop, sie alle sind Charakterköpfe, die ohne weiteres in eine Hauptrolle schlüpfen könnten.

 

Der ruhige Fluss der Erzählung wird nicht eintönig, weil

Carr - wie der Maler des meisterlichen Gemäldes - keine vorgestanzten Figuren darstellt, sondern lebendige Menschen. Eleganz und Leichtigkeit, vor allem aber Warmherzigkeit zeichnen seinen Stil aus - ein rundum gelungener Roman. Der den Leser bei allem Gelingen, das sich einstellt, etwas wehmütig zurücklässt, was nicht nur

am Verglimmen des Sommers liegt.

 

 

 

 

 

 

 

J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land

Übersetzt von Monika Köpfer

DuMont Buchverlag, 2016, 144 Seiten

(Originalausgabe 1980)