Jane Campbell - Kleine Kratzer
"Und dass sie einander verstanden, war essenziell, denn beide hatten sich inzwischen außerdem an die Erkenntnis gewöhnt, dass ihr Leben, ihr inneres, geistiges und emotionales Leben, und man könnte noch hinzufügen: ihr seelisches, in den Augen der Gesellschaft und insbeson-dere der Familie nicht existierte. Als bedeuteten das erste Auftreten von Falten und eine gewisse Unsicherheit des Gleichgewichts zugleich auch die Auslöschung allen Denkens, allen Sinns, aller Hoffnung, aller Ziele, aller ... Leidenschaft."
Dieses Zitat stammt aus der Erzählung "183 Minuten", diese Zeit verbringen eine alte Frau und ein alter Mann zusammen im Zug. Als Fremde sitzen sie sich anfangs gegenüber, als ein Paar steigen sie nach gut drei Stunden aus. Sie beweisen damit: Wir leben, wir haben ein Recht auf ein Leben, mit allem, was dazugehört, trotz Falten.
Diese Heldin teilt eines mit den Protagonistinnen der anderen 13 Kurzgeschichten: das Alter. Ausnahmslos drehen sich die Geschichten um Frauen jenseits der siebzig.
Sie sind manipulativ, eigensinnig, empfinden Verlangen, leben mit und in ihren Erinnerungen, nehmen die Gegen-wart aber sehr wohl wahr. Sie sind keine Heiligen, die dem Leben entsagt haben und nun als gute Geister über der Familie schweben, sie sind komplexe Persönlichkeiten, die sich gegen das Abstellgleis wehren.
Es gibt wenige Bücher, die gealterte Frauen als Individuen, und nicht etwa als Teil einer Familiengeschichte, in den Mittelpunkt stellen. Ein gelungener Roman dieser Art ist "Mutters Stimmbruch" von Katharina Mevissen, einer jungen Autorin, die sich sehr einfühlsam in die viel viel ältere Heldin ihres Romans hineinversetzt.
Jane Campbell hingegen wurde 1942 geboren, veröffentlichte ihr Debüt - diese Erzählungen - mit achtzig! Sie blickt zurück auf ein ganzes Leben und auf eine fünfunddreißigjährige Tätigkeit als Psychotherapeutin. Dieses Wissen fließt mit ein in ihre Literatur, die sich sehr tief in die Seelen und auch Körper ihrer Heldinnen begibt.
Das Buch fällt also in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen. Auch stilistisch, denn die Autorin verfügt über einen hintergründig-abgründigen Humor, mit dem sie ganz elegant weitverbreitete, bigotte Vorstellungen aufzeichnet und genussvoll aufspießt.
Gleich in der ersten Geschichte erfährt der Begriff "Edelmut" eine Neudefinition. Ganz gezielt hilft hier die Protagonistin einer Nachbarin, ihren Ehemann final loszuwerden, das war "eines der edelmütigsten Dinge, die ich je getan habe". Diese Story ist auch eine herrlich überzeichnete, oder in vielen Fällen womöglich auch grausam realistische Beschreibung des gealterten "Scheißkerl", des gutaussehenden, charmanten Mannes, der hemmungslos "herumhurte". Als er noch nicht unter Prostataproblemen litt...
In einer anderen Geschichte verliebt sich die sechsundacht-zigjährige Susan in ihre Pflegerin Miffy:
"...Susan hatte einen analytischen Verstand und begriff, dass sich gerade etwas Unumkehrbares ereignet hatte. Wenn sie erkannt hätte, dass es Liebe war, hätte sie gestaunt; hätte man ihr gesagt, es sei Lust, wäre sie entsetzt gewesen."
Dieses Begehren einschließende Verlieben einer alten Frau, die jahrzehntelang verheiratet war, Kinder hat, taucht in diversen Erzählungen auf. "Sie hatte das Gefühl, erst jetzt zu begreifen, was Leben hieß" gilt nicht nur für Susan. Die Familie meint, eine Großmutter müsse über die Neuigkeit, Urgroßmutter zu werden, glücklich sein und sieht nicht, dass sie glücklich ist, in ihrer unerwarteten Liebe "ein solches Gefühl von Frieden" wie noch nie zu empfinden.
Die gesellschaftlich eingeübte Reaktion auf eine späte Liebe ist in der Regel ignorieren.
Der Tod wird nicht ausgespart in diesen Geschichten, auch nicht der Suizid. Hier stammt der Leitgedanke von Arthur Schopenhauer: "Schopenhauer hat gesagt, der Selbstmörder sehne sich keineswegs nach dem Tod; er sehne sich nach dem Leben, nur nicht nach dem, das er hat." Manchmal ist es so, dass sich das Leben nicht mehr ändern lässt, aber: "der Frieden war in Reichweite. Nicht, was sie besessen, sondern was sie losgelassen hatte, brachte ihr den Frieden", so Daisy, die nach unendlich langer Zeit ihrem ehemaligen Liebhaber begegnet. Sie wollte ihm sagen, dass er ihr Leben verändert, sie "lebendig gemacht" habe, nach einer Phase, in der sie innerlich tot war. Ob sie gehofft hatte, mit ihm noch einmal die Liebe zu finden, lässt Jane Campbell offen.
Daisys Eintauchen ins Meer erscheint jedoch nicht wie eine Verzweiflungstat.
Besonders interessant an diesen vielschichtigen Texten sind auch die Überblendungen von Vergangenheit und Gegenwart. Erinnerungen weben sich in das momentane Geschehen, zeugen von der Komplexität der menschlichen Psyche: "Und in der Nacht hatte sie dann den Traum. Oder war es eine Erinnerung? Sie war sich nicht ganz sicher. Traum war wahrscheinlicher, fand sie, aber sie wusste, dass es auch eine Erinnerung war." (Hervorhebung von mir, P.L.) Mit dieser Traum-Erinnerung an ein junges Mädchen, das einst große Gefühle in ihr auslöste im Herzen, findet Nell in den letzten Minuten ihres Lebens Frieden.
Es kann aber auch irgendwann Zeit sein, einer alten Erinnerung ihr Gewicht zu nehmen. So kommt die Heldin der letzten Geschichte, "Vom Alleinsein", nach einem Leben mit dem Glauben an die Prophezeiung einer Handleserin, zu einer neuen Definition von Alleinsein: "Man musste zugeben, dass man aufeinander angewiesen war. ... Ich bin eine alte Frau und offenbar etwas begriffsstutzig, denn das war mir neu." So schlicht diese Erkenntnis ist, so umwerfend, umstürzlerisch für das Leben dieser Schriftstellerin, die sich nun vornimmt, "meine Mrs. Dalloway zu schreiben. Wahrscheinlich fehlt mir das Talent, aber vielleicht stelle ich ja fest, dass ich am Ende doch mutig genug bin, es zu versuchen."
Immer wieder fällt das Wort "Frieden" in diesem Buch. Eines macht Jane Campbell unmissverständlich klar: man findet ihn nicht, wenn man sich damit arrangiert, aussortiert zu werden, weil man für die anderen nicht mehr "nützlich" ist. Und auch nicht, wenn man sich dem Unerwarteten verschließt.
Jane Campbell: Kleine Kratzer
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Kjona Verlag, 2023, 192 Seiten
(Originalausgabe 2022)